Ich möchte dir heute 22 Bücher vorstellen, die ich im Jahr 2022 gelesen und geliebt habe – manche sind allerdings schon zu einem früheren Zeitpunkt auf dem deutschen Buchmarkt erschienen. Es gibt andere Bücher, die mir ebenfalls gut gefallen haben, diese hier sind jedoch meine absoluten Favoriten.
Inhaltsverzeichnis, sortiert nach Autor:innen
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A bis L
- Thomas Arzt: Die Gegenstimme
- Fatma Aydemir: Dschinns
- Carl-Christian Elze: Freudenberg
- Percival Everett: Erschütterung
- Mareike Fallwickl: Dunkelgrün fast Schwarz
- Marie Gamillscheg: Aufruhr der Meerestiere
- Jane Harper: Der Sturm
- Kim de l’Horizon: Blutbuch
- Yael Inokai: Ein simpler Eingriff
- Stephen King: Billy Summers
- Dagmar Leupold: Dagegen die Elefanten!
- Jessica Lind: Mama
M bis Z
- Ian McEwan: Lektionen
- Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982
- M. L. Rio: If We Were Villains (dtsch. Das verborgene Spiel)
- Donal Ryan: Die Stille des Meeres
- Anna Yeliz Schentke: Kangal
- Jochen Schmidt: Phlox
- Jochen Schmidt: Zuckersand
- Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn
- Benedict Wells: Hard Land
- Virginia Woolf: Mrs Dalloway
Thomas Arzt: Die Gegenstimme
Wir befinden uns im April 1938. In Österreich soll eine Volksabstimmung nachträglich den Anschluss ans Nazi-Regime legitimieren – inszeniert, durchgeplant, mit Demokratie hat das nichts mehr zu tun. Eine Welle der Propaganda und Verblendung überflutet das Land; wer dagegen ist, hält aus Angst meist den Mund. In einem kleinen Dorf herrscht am Wahltag eine perverse Festtagsstimmung: Die eine jubelt im Hitler-Wahn, der andere ersäuft sein Gewissen im Schnaps. Nur Karl, der Sohn des Schusters, kehrt extra heim aus Innsbruck, wo er studiert, um seine Gegenstimme abzugeben.
Das kleine Dorf wird zum Brennglas für diesen Teil der deutsch-österreichischen Geschichte. In kleinem Rahmen zeigt sich die gesamte Bandbreite der menschlichen Fehlbarkeit, der menschlichen Hoffnung, des menschlichen Mutes – auch wenn letzterer eher durch ein verzweifeltes Aufbäumen als durch strahlende Heldentaten Ausdruck findet. Das ist schlüssig und spannend, regt zum Nachdenken an und überzeugt auch sprachlich durch eine gekonnte Mischung aus Hochdeutsch und Dialekt.
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Fatma Aydemir: Dschinns
Ende der 90er plant der in Deutschland lebende Hüseyin seine Rente. Dreißig Jahre lang hat er sich abgeschuftet und gespart, gespart, gespart, bis das Geld endlich reichte für eine Wohnung in Istanbul. Hüseyins Traum, die ganze sechsköpfige Familie dort zu vereinen, ist fast mit Fingern zu greifen, also reist er schon mal vor, um sich die eingerichtete Wohnung anzusehen. Zufrieden, hoffnungsvoll läuft er durch die Zimmer und denkt über seine Familie nach, vor allem über die älteste Tochter, Sevda, die er um Verzeihung bitten will. Alles soll anders werden … Doch da spürt er einen schrecklichen Schmerz im linken Arm, im Brustkorb und begreift: Er wird die ersehnte Versöhnung nicht mehr erleben. Ein letztes Wort an die schockierte Nachbarin …
Zehn Seiten, und schon hat der Roman dir das Herz gebrochen, Leser:in. Einfach so. Ganz ohne Pathos, ganz ohne Betroffenheitskitsch.
Aber lies weiter, es lohnt sich: Was für ein großartiges, großartiges Buch. Was für ein wunderbarer, kraftvoller und doch subtiler Schreibstil. Hier wird viel zur Sprache gebracht, endlich dem Schweigen entrissen: generationenübergreifende Traumata, so tiefverwurzelte wie überholte Doktrinen, Rassismus, Homophobie, Transidentität, weibliche Selbstermächtigung … Das wirkt weder überladen noch erzwungen, setzt sich ganz natürlich aus dem vielstimmigen Chor zusammen.
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Carl-Christian Elze: Freudenberg
Der 17-jährige Freudenberg fühlt sich fremdbestimmt in seinem Leben, gleichzeitig übersättigt und eingesperrt. Am ersten Tag eines Familienurlaubs findet er am Fuße einer Steilküste die Leiche eines Jungen am Strand. Das Gesicht ist zertrümmert, der Körper ist dem von Freudenberg so ähnlich, dass der die Chance ergreift und seinen Tod inszeniert. Endlich kann er sein eigenes Leben beginnen, endlich ist er frei. Doch umgehen kann er mit dieser Freiheit nicht …
Die Erzählung ist so kraftvoll, so verstörend; du kannst dich ihr so wenig entziehen wie einem Albtraum, der dich im Zustand der Schlafparalyse überkommt. Freudenbergs Gedankenbilder machen aus vertrauten Elementen des Alltags etwas Morbides, düster Bedrohliches. Die Geschichte zerfasert sich in verschiedene Ebenen, die geradezu wirken wie aus verschiedenen Parallelwelten gegriffen. Die Realität ist hier ein zerbrechliches Gefüge, was nichts Befreiendes an sich hat, keinen erlösenden Moment der Katharsis.
Das klingt schrecklich, und es ist in der Tat ein herzzerreißendes, schmerzliches Leseerlebnis – ein Roman, der Kafka gefallen hätte. Dies ist in der Tat ein Buch, das auf uns wirkt ‘wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord‘. Kurz gesagt: “Freudenberg” kann die vielzitierte ‘Axt sein für das gefrorene Meer in uns‘. Das ist sprachlich meines Erachtens unglaublich stark.
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Percival Everett: Erschütterung
Der Paläontologe Zach Wells existiert in selbsterwähltem Stillstand. Er ist leidlich zufrieden mit seiner Arbeit, seiner Ehe, seinem Leben, warum also etwas ändern? Nur die Liebe zu seiner Tochter Sarah ist ein Lichtblick, ein strahlender Komet am Himmel seiner Mittelmäßigkeit. Als das kleine Mädchen jäh erkrankt – unheilbar, unerträglich – erschüttert das Zachs Existenz in den Grundfesten. Er kann nicht umgehen mit der eigenen Hilflosigkeit; die bislang so bequeme Stasis wird zur Zwangsjacke, die ihn sehenden Auges und klaren Verstands zur Untätigkeit verdammt.
Es geht um Trauer, um Schuld und Erlösung. Es geht darum, wie wir irgendwo zwischen Absicht und Aktion die Kontrolle über unsere Leben verlieren können. Es geht um emotionale Wahrheiten, die auch im Angesicht kalter Fakten nicht weniger wahr werden. Und immer wieder ist da so ein Gefühl, dass die Geschichten, die wir uns selber erzählen, nicht weniger wichtig sind als das tatsächliche Geschehen.
Der Schreibstil überzeugt mit feiner Selbstironie und psychologischer Prägnanz. Das Ungesagte spricht klar und deutlich aus den Pausen, den Brüchen; es sind gerade die Leerstellen, in denen die Charaktere einen ungeahnten Tiefgang entwickeln. Trauer, Schmerz, Angst, Verzweiflung, das alles springt dich als Leser:in aus den Seiten geradezu an, ohne jegliches Pathos, ohne Betroffenheitskitsch. Der feine Humor ist Balsam für die geschundene Leser:innenseele.
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Mareike Fallwickl: Dunkelgrün fast Schwarz
Den charmanten Raffael und den künstlerisch begabten Moritz verband einst eine Kinderfreundschaft, die viel mit emotionaler Abhängigkeit und der Ausnutzung vermeintlicher Schwäche zu tun hatte und schließlich ein schmerzliches, wohl unvermeidliches Ende fand. Sechzehn Jahre später erwartet Moritz mit der Frau, die er liebt, die Geburt des ersten gemeinsamen Kindes – alles ist gut. Doch dann steht Raffael auf einmal unangekündigt vor der Tür, und die Vergangenheit bricht wieder über Moritz herein.
Dies ist ein Roman, den du als Leser:in am besten selbst entdecken solltest – nicht nur wegen der Charaktere, die geradezu leben und atmen. Er überzeugt durch eine Originalität, die ihresgleichen sucht, von Mareike Fallwickl in Worte gefasst, die sich lesen wie eine ganz neue Sprache der Zwischentöne, der Schattierungen. Da passt einfach alles: der treffsichere Rhythmus der Dialoge, die ungewöhnlichen Bilder und Metaphern, der Spannungsbogen, der sich direkt in die Leser:innenseele bohrt.
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Marie Gamillscheg: Aufruhr der Meerestiere
Warum? Warum hat Luise ihre Forschung einer Qualle verschrieben, die als invasiv gilt, als schädlich, geradezu als Vorbote der ökologischen Apokalypse? Die Meerwalnuss frisst ihre Kinder, heißt es, doch Luise stellt klar: Die Quallen fressen sich gegenseitig – nur der Schwarm zählt, nur in der kompletten Auflösung im Kollektiv ist der Tod des einzelnen bedeutungslos. Luise träumt von diesem Leben im Schwarm, von der Auflösung der individuellen Form. Da kann man Parallelen ziehen zu ihrer Essstörung, zu ihrer Angst vor dem Tod, zu ihrem Wunsch, vollends zu verschwinden. Nichts existiert zwischen Selbstaufgabe und totaler Einsamkeit.
In diesem Roman kann man sich verirren, doch das Verirren lohnt sich. Lass los, lass dich treiben. Erwarte nichts und nimm das Unerwartete an, dann kannst du einen wirklich außergewöhnlichen Roman entdecken. Denn je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bezaubert er mich, desto mehr verstört er mich, desto mehr möchte ich darin ertrinken und darin aufgehen. Diese offene Form, dieses Nicht-Erklären vieler Dinge, das muss wahrscheinlich genau so sein und nicht anders, um die Themen nicht im Keim zu ersticken.
Di:er Leser:in muss nicht immer alles verstehen – das ist nicht die Aufgabe eines Romans. Und dieser hier ist auf jeden Fall etwas ganz Eigenes, Außergewöhnliches. Er wirft einen Stein in den See deiner Gedanken, und du schaust dann den Kreisen zu, die sich organisch bilden. Und so soll es doch sein, das ist die Aufgabe eines Romans.
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Jane Harper: Der Sturm
Vor zwölf Jahren traf der junge Kiernan eine leichtsinnige Entscheidung, die dazu führte, dass zwei Menschen ums Leben kamen – einer davon war sein Bruder Finn. Auch ein Mädchen verschwand in jener Nacht, die die Menschen von Evelyn Bay niemals vergessen würden, spurlos und ward nie wieder gesehen. Nun kehrt Kiernan mit seiner Freundin Mia und der gemeinsamem kleinen Tochter Audrey zurück nach Evelyn Bay, um seine Eltern zu unterstützen und mit der Vergangenheit abzuschließen. Doch als eine Frau tot am Strand gefunden wird, steht er schnell wieder im Fokus der Aufmerksamkeit und muss erkennen, dass diese Vergangenheit lange Schatten wirft.
Jane Harpers Thriller sind subtile, leise Dramen, die sich langsam entwickeln, und meines Erachtens doch nie langweilig werden. Was wirklich geschehen ist, das wird in Rahmenhandlungen mit psychologischen Tiefgang verpackt – und ist im Grunde zweitrangig. Wichtig ist, was die Geschehnisse mit und aus den beteiligten Menschen machen, und da brilliert Harper mit leichter Hand und doch emotionaler Wucht. All das spielt sich an Schauplätzen ab, die mehr sind als nur pittoresker Hintergrund, die fast schon zu treibenden Kräften werden. In »Der Sturm« ist es die tosende Küste Tasmaniens, die Opfer fordert wie ein launischer Gott; die Flut ist eine unaufhaltsame, archaische Macht.
Jane Harper ist keine Autorin für ungeduldige Leser:innen, ihr Stil ist einer der sorgfältigen Erkundung und Enthüllung. Doch die Geduld lohnt sich meines Empfindens.
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Kim de l’Horizon: Blutbuch
Kim de l’Horizons literarisches Ich ist auf der Suche. Nach anderen Arten, auf dieser Welt zu leben, anderen Formen des Daseins.
Kim sucht und Kim findet. Nicht nur eine unvergleichliche Stimme für deren persönliche Erfahrungen und Lebenswirklichkeit, sondern ganz neue Perspektiven zum Thema Identitätsfindung und Inklusion abseits binärer Gender-Grenzen. Besonders in den Passagen, die Kim aus Sicht derens kindlichen Ichs erzählt, spürt mensch, wie herzzerreißend schwer es ist, zu dir selbst zu finden, wenn die Sprache für dich keine Worte hat. Weil du durchs Raster fällst. Weil das nicht sein darf. Mädchen oder Junge, andere Arten des Daseins sind nicht vorgesehen. Wohl nicht von ungefähr hatte Kim als Kind das Gefühl, keinen eigenen Körper zu besitzen.
»Blutbuch« ist sprachlich oft wunderschön, manchmal geradezu poetisch, leise und nachdenklich. Dann wieder zieht Kim ungebremst und schamlos alle Register: derb, frech, laut, explizit sexuell. Das ist radikale künstlerische Freiheit, und das feiere ich. So originell, so kraftvoll, im besten Sinne respektlos gegenüber eingefahrenen Strukturen. Burning down the patriarchy, und die binäre Geschlechterdoktrin gleich mit.
Kim wechselt die Stile, die Bedeutungsebenen, sogar die Sprachen. Immer wieder hielt ich beim Lesen einen Moment inne, in schierem Erstaunen, beeindruckt und überwältigt. Das ist ein literarischer Befreiungsakt, der sich dir unter die Haut schreibt.
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Yael Inokai: Ein simpler Eingriff
Meret ist Krankenschwester. In ihrer Klinik wird ein Eingriff angewandt, der psychische Erkrankungen schnell und radikal auslöschen soll. Meist geht es um Frauen, die eingeliefert wurden, weil sie ihre Wut allzu offen zeigten. Aber Wut auf wen, und ist diese vielleicht gerechtfertigt? Immer wieder werden hier patriarchalische Hierarchien spürbar – mit Tradition verbrämter, mit Effizienz rationalisierter Machtmissbrauch. Die Wut der Männer ist Privileg, die Wut der Frauen ist Wahnsinn, der ihnen aus den Gehirnen geätzt werden muss. Ort und Zeit bleiben unbestimmt, doch eins ist offensichtlich: In diesem Setting ist Medizin mit einem großen Machtgefälle verbunden. Wer bestimmt, was Normalität ist und was Wahn?
Yael Inokai führt mit klaren, leisen Worten durch die Geschichte. Worte, die niemals belehren. Worte, die weder beschönigen noch die Tragödien für den Schockfaktor ausschlachten. Das haben sie gar nicht nötig, denn die Wucht und Wirkung der Geschichte entfaltet sich gerade in den Zwischentönen, im Unausgesprochenen. Ein wunderbarer Roman, der dich nachdenklich zurücklässt – und mit dem emotionalen Echo, der inneren Resonanz der zum Schweigen gebrachten Wut.
Die Subtilität, mit der Yael Inokai spricht, mit der sie Leser:innen an die Hand nimmt, tut der Aussagekraft der Geschichte keinen Abbruch. Der ‘simple Eingriff’ bringt Frauen zum Schweigen, literarische Schwestern all der zum Schweigen gebrachten Frauen in unserer Realität. Meines Empfindens gibt die Autorin ihnen stellvertretend eine Stimme.
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Stephen King: Billy Summers
Billy Summers ist Auftragskiller, nimmt einen Auftrag aber nur an, wenn es einen schlechten Menschen trifft, obwohl er sich durchaus bewusst ist, dass das sein Gewissen nicht reinwaschen kann. Für seinen neusten Auftrag quartiert er sich als angeblicher Schriftsteller in der Nähe des Ortes ein, an dem das Attentat stattfinden soll, und schreibt seine Lebensgeschichte auf – allerdings aus Sicht seines Alter Egos, des dummen Billy, denn seinen Auftraggebern gaukelt er stets vor, er sei geistig minderbemittelt. Billy, der dumme Billy, der falsche Schriftsteller Billy, der Billy, der wirklich immer schon Autor sein wollte … Das Buch hat so viele Schichten wie sein überraschend komplexer Protagonist – und das potenziert sich noch, als Billy die junge Alice rettet.
Ich habe ja immer das Gefühl, King schreibt am besten, wenn die Geschichte nichts mit übernatürlichen Monstern zu tun hat – höchstens mit menschlichen. In “Billy Summers” merkst du als Leser:in schnell, dass es zwischen Schwarz und Weiß eine Unmenge Graustufen gibt. King erzählt eine zutiefst originelle Geschichte, die ihre ruhige Spannung nicht aus oberflächlichen Schockeffekten speist, sondern aus den Facetten eines Lebens voll tragischer Unvermeidlichkeiten, das im Schreiben des Protagonisten endlich einen wahrhaftigen Ausdruck findet.
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Dagmar Leupold: Dagegen die Elefanten!
Herr Harald ist Garderobier im Theater, ein Beruf, den er mit stiller Würde ausübt. Er hat keine Familie, keine Freunde, im beruflichen Alltag wird er als Mensch gar nicht wahrgenommen. Dennoch scheint ihm nichts zu fehlen, bis seine Welt in zweierlei Hinsicht erschüttert wird: Er verliebt sich, er findet eine Waffe, und beides öffnet eine gedankliche Brücke zu dem, was im Leben vielleicht noch möglich wäre.
Schon nach wenigen Seiten verlor ich mein Leserinnenherz an Herrn Harald. Ich liebte seine würdevolle Art. Ich liebte seinen feinen Sinn fürs Detail. Ich liebte die respektvolle Aufmerksamkeit, die er sogar den scheinbar belanglosesten Gegenständen schenkt. Da eröffnen sich ganze Welten in seinen Gedanken, in seinen Metaphern und behutsamen Bildern; da breitet sich beim Lesen ein tiefer innerer Reichtum vor dir aus. Er ist ganz ohne Zweifel exzentrisch, indes auf ruhige Art, die nichts fordert und nichts erwartet. Ach, Herr Harald, du Held der kleinen Dinge.
Es ist eine Geschichte der leisen Töne, ohne klassischen Spannungsbogen, ohne dramatische Entwicklungen. Wahrhaft großartig wird sie erst dann, wenn man ihr mit Herrn Haralds Wertschätzung für das Unspektakuläre Raum gibt – aber dann liest sich alles wie aus einem Guß, als könnte man es gar nicht anders erzählen. Sprachlich ist diese zarte Erzählung eine Wucht.
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Jessica Lind: Mama
Ihr ganzes Leben lang träumt Amira schon davon, Mutter zu werden. Sie sammelt Babynamen, stellt sich ihre Tochter vor, ist mit hundertprozentiger Sicherheit davon überzeugt, in der Mutterschaft ihr Lebensglück zu finden. Dass ihr Mann Josef mit der Vorstellung hadert, Vater zu werden, ändert nichts an dieser Überzeugung. Als sie endlich schwanger wird, zerbricht diese jedoch – der Fötus ist für sie kein Baby, sondern ein wurmartiger Parasit. Dies behält sie jedoch für sich, in der Hoffnung, dass die Geburt alles wieder ins Reine bringen wird. Und das tut sie, aber gleichzeitig auch nicht, denn die Wirklichkeit gerät aus den Fugen.
Ich konnte mich der Geschichte von der ersten Seite an nicht entziehen. Sie hielt mich gepackt mit einem Gefühl der dräuenden Verdammnis und gleichzeitig dem Wunsch nach einer Versöhnung der Erzählerin mit sich selbst. Das ist spannend und ruft viele Assoziationen hervor, die man als Leser:in erstmal sortieren muss. In meinen Augen habe ich nie zuvor etwas gelesen, in dem Mutterschaft so kafkaesk symbolisch-bedrohlich dargestellt wurde, und zugleich so glaubhaft und emotional überzeugend. Jessica Lind nutzt Depersonalisation und Derealisation, schafft einen Abstand durch die Ebene der Märchenerzählung, um ihre Geschichte in einer Vielzahl von Farben zu malen und dabei doch subtil zu bleiben.
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Ian McEwan: Lektionen
Zu Beginn des Buches lernen wir den 11-jährigen Roland Baines als sensibles Kind kennen, das dem Leben im Internat bang entgegensieht. Obwohl die schlimmsten Ängste sich als unbegründet erweisen, fühlt er sich zunächst entwurzelt. Und da kommt diese Klavierlehrerin daher und quält ihn mit fiesen Kniffen und herabwürdigender Sprache, verunsichert ihn mit übergriffigen Berührungen, gibt ihm aber gleichzeitig das Gefühl, dies alles mache ihn zu etwas Besonderem. Das fällt auf fruchtbaren Boden – ein Kind wie Roland, das sich nach einer Veränderung haltlos fühlt, lässt sich von Erwachsenen leicht zum Opfer machen. Die Beziehung überschreitet letztendlich Grenzen und prägt ihn fürs ganze Leben: An seiner zwanghaften Hypersexualität scheitern Beziehungen; tiefsitzende Rastlosigkeit und Entscheidungsunfähigkeit führen dazu, dass seine außergewöhnliche Talente nie voll zum Erblühen kommen.
Tschernobyl, Kubakrise, sexueller Missbrauch, das Leben im Internat, die Weiße Rose, der Mauerfall, Brexit: McEwan greift viele Themen auf, persönliche wie zeitgeschichtliche, und jedes davon stellt die ureigene Entwicklung eines oder mehrere der Charaktere in den Fokus – die Ziele, die Konflikte mit dem Status Quo oder die Auflehnung dagegen, die Sackgassen und Abwege. Was macht das mit den Charakteren? Was sagt das aus über sie? Die Art, wie der Autor die Wechselwirkung zwischen politischen Ereignissen und intimstem individuellem Leben darstellt, ist in meinen Augen eine echte Kunst.
Der Roman liest sich im besten Sinne wie ein Alterswerk, stilistisch und inhaltlich gereift wie ein guter Wein. Die Schwere mancher angesprochenen Themen weicht immer wieder einer versöhnlichen Leichtigkeit, und diese Mischung macht aus »Lektionen« in meinen Augen einen unterhaltsamen Schmöker mit Tiefgang.
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Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982
Kim Jiyoung lebt mit ihrem Mann und ihrem Baby in einer kleinen Wohnung am Rande von Seoul. Ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ist klar umrissen in den Erwartungen der koreanischen Gesellschaft, und sie fügt sich: Vor kurzem hat sie erst ihre Karriere aufgegeben, um sich nur noch um die Familie zu kümmern. Aber das, stellt sich heraus, war wohl eine Unterwerfung zu viel. Der Tropfen auf dem heißen Stein, nach einem Leben, das stets von den Männern in Kim Jiyoungs Leben bestimmt und überwacht wurde. Sie entwickelt eine Psychose, die sich stetig verschlimmert. Es ist der Psychiater, der sie wieder ins Lot bringen soll, der danach emotionslos ihre Lebensgeschichte nacherzählt.
Dieser Roman ist zweifelsohne sehr wichtig. Er zeigt, was für einen weiten Weg wir noch vor uns haben, damit Frauen wirklich gleichberechtigt sind – insbesondere Frauen, die Kinder haben und danach nicht ausschließlich auf Kindererziehung und Haushalt reduziert werden wollen. Auch wenn die Geschichte in Korea spielt und die Problematik dort wohl noch einen ganz anderen Stellenwert hat, können sich sicher Frauen aus der ganzen Welt in Kim Jiyoung wiederfinden.
Ich bin froh, das Buch gelesen zu haben, auch wenn der Schreibstil eher nüchtern ist und nicht dazu einlädt, auf emotionaler Ebene mitzufühlen. Trotz dieser Reduziertheit der Sprache war ich traurig, ernüchtert, wütend, denn gerade die minimalistische Klarheit lässt die Ungerechtigkeiten und Schwierigkeiten, mit denen Kim Jiyoung zu kämpfen hat, umso deutlicher hervortreten.
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M. L. Rio: If We Were Villains (dtsch. Das verborgene Spiel)
Im Zentrum der Geschichte stehen sieben hochtalentierte junge Menschen, die am angesehenen »Dellecher College« Schauspiel studieren. Sie leben und atmen die Werke Shakespeares, sprechen in Zitaten, haben im Laufe der Jahre ihre üblichen Bühnenrollen verinnerlicht – so kann z.B. der Bühnendespot auch im echten Leben ein selbstsüchtiger Widerling sein, und die Verführerin reizt ihren Sex-Appeal aus. Doch so unterschiedlich sie auch sind, fühlen sie sich doch freundschaftlich verbunden. Oliver Mark, der bisher immer nur die Nebenrollen bekam, wird unverhofft doch endlich eine große Rolle zugewiesen – doch wenig später treibt einer seiner Freunde tot im See, was die Freude doch empfindlich schmälert.
Als Leser:in weißt du von Anfang an, wer dafür verurteilt wird, denn ein Teil der Geschichte wird auf einer zehn Jahre später spielenden Handlungsebene erzählt. Aber ob es die richtige Person getroffen hat, das bleibt lange ein Rätsel – denn wer könnte Unschuld besser vortäuschen als eine Gruppe junger Mimen?
Hier handelt es sich um ein wirklich feines Werk aus dem relativ neu definierten Genre »Dark Academia«. Dieses entwickelte sich im Laufe der aktuellen Pandemie aus einem zunächst rein ästhetischen Trend, inspiriert von Mode und Lebensgefühl englischer Eliteuniversitäten des 20. Jahrhunderts. Auf TikTok und Instagram zeigen sich junge Menschen in Tweet und Schuluniformen; gelesen werden Lord Byron, Oscar Wilde, E.M. Forster, auch neuere Bücher wie zum Beispiel »Piranesi« von Susanna Clarke. Als ‘Bibel’ des Genres wird indes oft »Die geheime Geschichte« von Donna Tartt genannt. Das habe ich in den frühen 90ern gelesen und geliebt!
Tatsächlich ist die Handlung von »If We Were Villains« der Handlung von »Die geheime Geschichte« auf den ersten Blick sehr ähnlich: Im Umfeld junger Menschen, die eine elitäre Bildungseinrichtung besuchen, geschieht ein Mord. Aber die Umsetzung ist eine ganz andere, was besonders an den handelnden Personen liegt. Die sind hier zwar ebenfalls zwiespältige, im Bildungsbürgertum verwurzelte Menschen, aber sie sind überwiegend authentisch und nahbar, man kann mit ihnen mitfühlen, sie sogar lieben. Die grundlegend unsympathischen Charaktere der »Geheimen Geschichte« verweigern sich Leser:innen hingegen mit einem gewollten Verfremdungseffekt.
Die Atmosphäre ist ähnlich düster wie in Tartts Werk, die Handlung sehr geschickt konstruiert, in fünf Akten …
⧉ Rezension noch nicht geschrieben
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Donal Ryan: Die Stille des Meeres
Ein Episodenroman: Drei Männer treffen im kleinen irischen Ort Ardnamoher aufeinander. Farouk ist aus Syrien geflohen und völlig traumatisiert; Lampy wurde von seiner großen Liebe verlassen und ist zornig, traurig und frustriert; John war sein ganzes Leben lang ein schrecklicher Mensch und sucht jetzt auf den letzten Drücker die Vergebung. Sie kennen sich nicht, sie haben scheinbar nichts miteinander zu tun, ihre Leben verliefen in völlig anderen Bahnen. Und doch hat ihr Weg sie hierhin geführt, und Donal Ryan gewährt den Leser:innen vielschichtige Einblicke in die Lebenswirklichkeit seiner Protagonisten.
Der Schreibstil ist mal fast schon poetisch, dann wieder abgehackt und atemlos, ab und an geradezu roh… Der Autor bedient die ganze Klaviatur und erzielt damit eine sehr eindringliche Wirkung; seine Worte spiegeln die Persönlichkeiten seiner Protagonisten in jedem Abschnitt stimmig wider. Die sind meines Erachtens alle sehr komplex und überzeugend gezeichnet, in ihren positiven, aber gerade auch in ihren zwiespältigen oder sogar negativ besetzten Eigenschaften.
Das erzeugt echten Tiefgang, und auch echte Spannung ohne Effekthascherei – für mich ist “Die Stille des Meeres” dementsprechend auch eine echte Leseempfehlung.
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Anna Yeliz Schentke: Kangal
Der Putschversuch des türkischen Militärs gegen die Regierung Erdoğan ist noch nicht lange her. Der verhängte Ausnahmezustand erlaubt es dem türkischen Präsidenten, per Dekret zu regieren; die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit wird immer weiter eingeschränkt. Es kommt zu Massenverhaftungen, Bildungseinrichtungen werden geschlossen, der Putsch dient als Rechtfertigung für eine zunehmende Beschneidung der Grundrechte und für eine erbarmungslose Kontrolle der Opposition.
Dies ist die Situation, in deren Kontext »Kangal« angesiedelt ist. Im Zentrum der Geschichte stehen zwei junge Frauen – Kusinen und als Kinder engste Freundinnen –, die einen sehr unterschiedlichen Blick auf die Geschehnisse in der Türkei haben. Beide sind in der Türkei geboren worden, aber während Dilek ihr ganzes bisheriges Leben dort verbracht hat, ist Aylas Familie schon vor einigen Jahren nach Deutschland ausgewandert. Ihre Mütter zerstritten sich damals bis aufs Blut, so dass die beiden Mädchen sich aus den Augen verloren.
Die Charaktere in »Kangal« blicken aus sehr unterschiedlichen Perspektiven auf das, was nach dem Putschversuch des Militärs im Jahr 2016 in der Türkei passiert. Anna Yeliz Schentke erzählt in ungemein eindringlichen Worten und mit messerscharfer Präzision davon, wie Menschen durch ihre Angst kontrolliert bzw. instrumentalisiert werden; die geschickt konstruierte Geschichte rast durch die kurzen Kapitel, in fieberhafter Intensität, und verliert dennoch nicht den Blick für die Graustufen. Auf kleinstem Raum gibt sie allen Charakteren eine Stimme für ihre Ängste, ihre Hoffnungen, ihre Bedenken, ihre Wünsche – ihre ganz reale Bedrohung.
Wer hat Recht, wer hat Unrecht, so einfach macht es die Autorin ihren Leser:innen nicht. Aber dieses beeindruckende Debüt bietet auf jeden Fall einen differenzierten Einblick in die Lebenswirklichkeit der Menschen, deren Existenz von diesem Putschversuch auf die eine oder die andere Art verändert wurden. Hier wird niemand klein geredet oder lächerlich gemacht, denn auch Unverständnis oder Unwissen haben ihre Wurzeln in einem System, das Wissen und Selbstbestimmung auf perfide Art und Weise beschneidet.
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Jochen Schmidt: Zuckersand
Hier beschäftigt sich ein Vater reflektierend mit der eigenen Kindheit, während er seinem zweijährigen Sohn Zeit und Raum gibt, die Welt zu entdecken – in selbstbestimmtem Tempo, auf selbstbestimmte Art. Da wird nichts als lächerlich oder unwichtig betrachtet. Wenn der kleine Karl Steine schleppen will, schleppt er Steine. Wenn er sich endlos damit beschäftigen will, sich die Hände zu waschen, ist das auch ok. Alles ist ein Wunder, alles ist ein Meilenstein. Alles wird bestaunt.
Dieser 2017 erschienene Roman lässt sich als Vorgeschichte des 2022 für den Deutschen Buchpreis nominierten Romans »Phlox« lesen. In »Zuckersand« begegneten Leser:innen den Protagonisten Richard, Klara und dem kleinen Karl zum ersten Mal. Ging es hier jedoch vor allem um Beziehungen auf der individuellen Ebene, mit deutlichem Fokus auf der Vater-Sohn-Beziehung, kommt in dem späteren Roman eine starke gesellschaftshistorische Ebene dazu. Das eine ist für das Verständnis des anderen nicht zwingend notwendig, ich kann sie aber ganz unabhängig voneinander empfehlen.
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Jochen Schmidt: Phlox
Schmogrow. Ein Ort der Kindheitserinnerungen, ein Hort der Schönheit und Gemeinschaft. Viele von Richards Wurzeln reichen zurück in dieses Selbstversorger-Idyll mit mehr als einer Prise Aussteigermentalität. Hier verbrachte seine Familie jedes Jahr ihre Ferien, hier wurde wohl auch der Samen gesät für Richards hartnäckigen Kampf gegen die Verhässlichung der Welt – und für seine Schwierigkeiten damit, die Kindheit loszulassen. Die Tatziets, die guten Geister von Schmogrow, boten mit ihrem stets offenen Haus vielen Menschen einen Rückzugsort von Stress, Mühen und Widrigkeiten ihres Alltags; ein unerschütterliches Fundament, auf dem ein gutes, naturnahes Leben möglich wurde.
Richard möchte dies alles seinen eigenen Kindern Karl und Ricarda mitgeben, fühlt sich aber zugleich verstoßen aus Schmogrows Nimmerland. Da schwingt immer mal wieder an, dass nicht nur ‘sein’ Schmogrow mit dem Tod der Tatziets unwiderbringlich verloren ist, auch das Land von Richards Kindheit gibt es seit der Wiedervereinigung nicht mehr so, wie er es erinnert.
Jochen Schmidts mal witziger, mal feinfühliger Schreibstil, mit seiner Liebe zum Detail und seinen aufmerksamen Beobachtungen, entspricht genau dem Wesen des Schauplatzes Schmogrow, der zugleich Leitmotiv des Romans ist.
Nichts ist zu klein oder unbedeutend, um in Richards Gedanken Erwähnung zu finden; jedes noch so unscheinbare Steinchen fügt sich ins Mosaik. Eine verlorene Socke stößt genauso Erinnerungen und philosophische Offenbarungen an wie das leise Geräusch eines Holzwurms oder der Geruch der faulenden Falläpfel. Es sind diese Details, die die Geschichte zum Singen bringen, und gerade in den ‘hässlichen’ Details findet sich die Schönheit, die Richard so verzweifelt zu identifizieren sucht. Allerdings kann er Gegenstände genauso schlecht loslassen wie die Idylle seiner Kindheit. Übersprungshandlungen in der Sinnsuche: Er hortet, will Glück und Schönheit konservieren; seine Frau macht gewaltlose Kindererziehung und Selbstfindungstrends zur Religion.
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Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn
Es ist eine harte Welt, in der Armut, Hunger und Krieg ihren Tribut fordern. Und im Zentrum der Geschichte steht Martin, ein kleiner Junge, der zu gut ist, zu reinen Herzens, zu tapfer und mitfühlend, um von seiner abergläubischen Dorfgemeinschaft akzeptiert zu werden. Soviel Güte ist ihnen nicht geheuer, denn ihre Wahrheit besteht darin, dass sich in Notzeiten jeder selbst der Nächste ist. Das Kind ist eine stete Erinnerung daran, wie schmerzlich sie selbst es an Mitgefühl und Menschlichkeit mangeln lassen. Das einzige Lebewesen, das ihm stets zur Seite stand, war der im Titel erwähnte schwarze Hahn, der kurzerhand zum Teufel oder Dämon erklärt wird, um die eigene Schuld notdürftig zu vertuschen.
Stefanie vor Schulte erzählt ein bildgewaltiges, düsteres Märchen, das wie aus der Zeit gefallen wirkt und mich dennoch auch als moderne Leserin begeistern konnte. Wie die alten Märchen, die die Jahrhunderte überdauert haben, ist es eine Geschichte voller Abgründe, voller Grausamkeit, deren Schatten man mit leisem Unbehagen in der eigenen Realität erahnt. Für nötige Balance sorgt ein kindlicher Held, der dem Elend und Leid seiner Welt mutig Liebe und Hoffnung entgegensetzt.
Die Sprache ist großartig, intensiv und beschwörend, die Geschichte verwebt ihre Spannungsfelder und Schlüsselcharaktere in den einfachen Rahmen einer Völksmär. Die Atmosphäre erinnerte mich streckenweise an »Krabat« von Otfried Preußler, doch »Junge mit schwarzem Hahn« ist beileibe kein Abklatsch, sondern etwas ganz Eigenes.
⧉ Die ganze Rezension zu »Junge mit schwarzem Hahn«
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Benedict Wells: Hard Land
Der goldene letzte Sommer der Kindheit ist für den 15-jährigen Sam so bittersüß, wie es nur möglich ist. Es ist der Sommer, in dem er sich zum ersten Mal mit Leib und Seele verliebt, und es ist der Sommer, in dem seine Mutter stirbt. Benedikt Wells erzählt das mit Wärme und Humor und Respekt, sodass du ganz ohne billige Effekthascherei beim Lesen die volle Bandbreite der menschlichen Regungen miterlebst – die Himmelflüge und die schwärzesten Momente der Verzweiflung. Da ist immer dieser Gedanke: Die Euphorie, das ist das Leben. Die Trauer, das ist das Leben. Und das Leben geht weiter, immer weiter, und das ist gut so.
Benedikt Wells hat ein unnachahmliches Gespür dafür, mit perfekt dosierten Details Atmosphäre aufzubauen. Er inszeniert eine Epoche, ein Stück Leben so glaubhaft, dass Leser:innen sich unverhofft in den Gefühlswelten seiner Charaktere wiederfinden, und das hat mit Pathos oder Rührseligkeit rein gar nichts zu tun. Man fühlt mit, lacht mit, leidet mit, weil man dabei ist, weil es so echt ist. Liebe, Trauer, Angst und sich blind Hineintasten in die Erwachsenenwelt… Jede:r hat mal einen Sam gekannt oder ist selber Sam gewesen.
Und das erfüllt dich mit ‘Euphancholie’, wie Sams große Liebe Kirstie das nennt: eine Mischung aus Euphorie und Melancholie. Ja, bittersüß ist das wirklich – aber auf jeden Fall wertvoll.
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Virginia Woolf: Mrs Dalloway
Oberflächlich betrachtet, passiert hier nicht viel: Im Jahr 1923 plant Mrs. Dalloway eine Abendgesellschaft und trifft einen alten Verehrer, ein Kriegsveteran wird in eine Klinik eingewiesen. Im Bewusstseinsstrom der Charaktere spiegelt sich jedoch nicht nur die persönliche Innenwelt, sondern auch die britische Gesellschaft der Zwischenkriegszeit, mit all ihren Anforderungen und Erwartungen.
Die Gedanken der Perspektivfiguren drehen sich im immer gleichen Kreise um Liebe und Verlust, Wünsche und Kümmernisse, Wahrheit und Wahnsinn. Virginia Woolf lässt diesen Strom ganz natürlich fließen, da wirkt nichts konstruiert, nichts dramatisiert. Nur feine, ironische Spitzen werden immer wieder spürbar in ihrer Schilderung der britischen Gesellschaft – eine Prise Humor, ein Hauch Verbitterung.
Die Prosa bleibt stets ganz nahe dran an den Gedanken des Charakters, aus dessen Sicht wir die Geschehnisse gerade sehen, so gut wie ungefiltert. Das ist nicht immer einfach zu lesen. Da springen die Gedanken schon mal unvermittelt von einem Thema zum nächsten, Worte und Satzfetzen wiederholen sich – aber das hat etwas unwiderstehlich Hypnotisches, entwickelt eine große Sogwirkung. Virginia Woolf zieht dich hinein ins ultimativ Subjektive, lässt dich quasi für einen Moment durch fremde Augen sehen. Ich fand den Schreibstil großartig und einzigartig – hinter scheinbaren Banalitäten verbirgt sich nicht weniger als eine Momentaufnahme der menschlichen Natur.
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