#Rezension Carl-Christian Elze: Freudenberg

Carl-Christian Elze: Freudenberg

© Cover ›Freudenberg‹: Edition Azur
© Grafiken: A.M. Gottstein

Handlung

Der 17-jährige Freudenberg spricht nur gezwungenermaßen mit seiner Umwelt, fühlt sich fremd in ihr. Er hat Sehnsüchte, Phantasien, Träume – aber keine Worte, um sich verständlich zu machen.

Also treffen andere die Entscheidungen für ihn. Während eines Familienurlaubs an der polnischen Ostseeküste bietet sich unverhofft die Chance, sein fremdbestimmtes Leben hinter sich zu lassen: An einem verlassenen Strandabschnitt findet er den Leichnam eines Jungen, der von der Steilküste abgestürzt ist. Freudenberg vertauscht Kleidungsstücke, Brieftaschen und Ausweise, inszeniert seinen eigenen Tod und nimmt eine neue Identität an. Doch schon bald überfordert ihn die neu gewonnene Freiheit und er kehrt in die elterliche Kleinstadt zurück, wo man ihn gerade beerdigt hat. Ein Gerüst aus Lügen soll ihm den Rückweg in sein altes Leben ermöglichen, aber dieses Gerüst trägt nicht.

In seinem sprachlich fulminanten Romandebüt erzählt Carl-Christian Elze von einem fast erwachsenen Kind, das anders ist als die anderen, erzählt von Schuld, Verdrängung und dem unstillbaren Wunsch, ein anderer zu sein.

(Klappentext)

“Freudenberg” hätte ich den Deutschen Buchpreis gegönnt.

Beim ‘Großen Longlist-Abend’ im Literaturhaus Hamburg stellten für den Deutschen Buchpreis 2022 nominierte Autor:innen sich und ihre Werke vor. Darunter war auch Carl-Christian Elze mit seinem klugen, tragischen, ganz und gar außergewöhnlichen Roman “Freudenberg”.

Er werde selber nicht so recht schlau aus seinem wortkargen Helden, der sich so fremd in seinem Leben fühlt, so machtlos und gefangen in den Routinen seines Vaters. »Wer ist dieser Freudenberg eigentlich?«, habe er sich gefragt, und entdecke das ein Stück weit in den Gesprächen, die er mit Interessierten über seinen Roman führt. Im Nachhinein habe er das Gefühl, der Roman sei eine Höllenmaschine, durch die Freudenberg durchmüsse. Bedrückend, seltsam, kaum fassbar – mit einem Ende, das auch für ihn als Autor so wenig in Stein gefasst sei wie für seine Leser:innen.

Eine Höllenmaschine?

Ja, das trifft es sehr gut, das gibt dem Gefühl, das ich beim Lesen hatte, einen Namen. Die Erzählung ist so kraftvoll, so verstörend; du kannst dich ihr so wenig entziehen wie einem Albtraum, der dich im Zustand der Schlafparalyse überkommt. Freudenbergs Gedankenbilder machen aus vertrauten Elementen des Alltags etwas Morbides, düster Bedrohliches. Die Geschichte zerfasert sich in verschiedene Ebenen, die geradezu wirken wie aus verschiedenen Parallelwelten gegriffen. Das ist sprachlich meines Erachtens unglaublich stark.

Die Realität ist hier ein zerbrechliches Gefüge, was nichts Befreiendes an sich hat, keinen erlösenden Moment der Katharsis. Aber wer hat die Deutungshoheit, um das mit Sicherheit zu sagen? Sicher nicht ich, und auch der Autor scheint sie nicht für sich zu beanspruchen.

Das klingt schrecklich, und es ist in der Tat ein herzzerreißendes, schmerzliches Leseerlebnis – indes keines, das ich missen möchte.

Bird LB

Aber warum?

Nachdem ich auf Instagram erwähnte, dass ich von “Freudenberg” sehr angetan war, fragte mich Marc vom Blog “Lesen macht glücklich”: »Was hat dir an Freudenberg so gefallen?« Und da musste ich erstmal in mich gehen.

Hier meine Antwort:

Ich glaube, es war vor allem dieses Schwebende – was ist Realität, was Traum, was sind nur Erinnerungen oder Gedankenexperimente. Der Erzähler ist unzuverlässig, im Endeffekt löst sich die Geschichte meines Erachtens dadurch von einer schlichten Abfolge von Geschehnissen. Die Themen fand ich umso eindringlicher. Diese Haltlosigkeit von Freudenberg in einem Leben ohne echte Ziele, dieser Überdruss, diese Verachtung der Lebensmodelle seiner Eltern, ohne Entwurf einer Alternative. Was gibt den Menschen noch Sinn in einer übersättigten Welt? Aber am eindringlichsten fand ich, wie Freudenberg nach und nach zerbricht an einer Schuld, die er sich erst ganz am Schluss eingesteht. Er hat den Jungen nicht getötet, aber dessen Leiche für seine eigenen selbstsüchtigen Zwecke benutzt – dabei gar nicht in Betracht gezogen, wie das andere Menschen emotional verletzen muss. Auch hier wieder der Gedanke, dass Freudenberg das Resultat einer übersättigten Welt ist, einer egoistischen Welt, in der Gemeinschaft verloren geht und die Menschen sich selber immer mehr reduzieren auf das ICH, ICH, ICH.

Aber vor allem ist “Freudenberg” ein Roman, der Kafka gefallen hätte.

Dies ist in der Tat ein Buch, das auf uns wirkt ‘wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord‘. Kurz gesagt: “Freudenberg” kann die vielzitierte ‘Axt sein für das gefrorene Meer in uns‘.

Hier verschwinden Grenzen, hier verschwimmen Wahrnehmungen und Erinnerungen. Erwartungen werden auf die Spitze getrieben und dann gebrochen. Dabei ist Freudenberg ein hochintelligenter Junge mit einem scharfen Blick auf die Welt um ihn herum. Aber das hilft ihm nicht, es ändert nichts an seiner schrecklichen Haltlosigkeit.

Ich hätte heulen können ob der schmerzvollen Unausweichlichkeiten seiner Heldenreise; ich haderte mit dem Schluss, den ich mehrfach für mich uminterpretierte. Der Charakter Freudenberg ist jedoch eine so klare Präsenz in meinem Kopf, regt mich so intensiv zum Nachdenken an, dass sich das lohnt.

wereadindie

“Freudenberg” ist das Patenbuch der Buchpreisblogger von We read Indie
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TitelFreudenberg
Originaltitel
Autor(in)Carl-Christian Elze
Übersetzer(in)
Verlag*Edition Azur
ISBN / ASIN978-3-942375-54-2 (Klappenbroschur mit Fadenheftung)
978-3-942375-58-0 (eBook)
Seitenzahl*176
Erschienen im*Februar 2022
Genre*Gegenwartsliteratur
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
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