#Rezension Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982

Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982

© Cover ‘Kim Jiyoung, geboren 1982’: Kiepenheuer & Witsch
© Bild eBook-Reader: Pixabay

Handlung

In einer kleinen Wohnung am Rande der Metropole Seoul lebt Kim Jiyoung. Die Mittdreißigerin hat erst kürzlich ihren Job aufgegeben, um sich um ihr Baby zu kümmern – wie es von koreanischen Frauen erwartet wird. Doch schon bald zeigt sie seltsame Symptome: Jiyoungs Persönlichkeit scheint sich aufzuspalten, denn die schlüpft in die Rollen ihr bekannter Frauen. Als die Psychose sich verschlimmert, schickt sie ihr unglücklicher Ehemann zu einem Psychiater.

Nüchtern erzählt eben dieser Psychiater Jiyoungs Leben nach, ein Leben bestimmt von Frustration und Unterwerfung. Ihr Verhalten wird stets von den männlichen Figuren um sie herum überwacht – von Grundschullehrern, die strenge Uniformen für Mädchen durchsetzen; von Arbeitskollegen, die eine versteckte Kamera in der Damentoilette installieren und die Fotos ins Internet stellen. In den Augen ihres Vaters ist es Jiyoung’s Schuld, dass Männer sie spät in der Nacht belästigen; in den Augen ihres Mannes ist es Jiyoung’s Pflicht, ihre Karriere aufzugeben, um sich um ihn und ihr Kind zu kümmern. »Kim Jiyoung, geboren 1982« zeigt das schmerzhaft gewöhnliche Leben einer Frau in Korea und gleichzeitig deckt es eine Alltagsmisogynie auf, die jeder Frau – egal, wo auf der Welt – nur allzu bekannt vorkommt.

(Klappentext)

Vom Stigma, eine Frau zu sein

Mit diesem Buch schrieb Cho-Nam Joo einen Bestseller, der nicht nur in ihrem Heimatland Korea fünf Jahre lang alle Verkaufsrekorde brach, sondern auch – übersetzt in 18 verschiedene Sprachen! – im Ausland enthusiastisch aufgenommen wurde. Zusammengenommen wurden inzwischen über 2 Millionen Exemplare des Romans verkauft.

Aber das Buch sorgte in Korea auch für Massenproteste und Kontroversen. So wurde zum Beispiel die erfolgreiche Sängerin und Schauspielerin Bae Joo-hyun von ihren männlichen Fans massivst beleidigt, bedroht und belästigt, nachdem sie bei einem Fan-Treffen beiläufig erwähnt hatte, das Buch gelesen zu haben. In den sozialen Medien veröffentlichten wütende junge Männer Videos, in denen sie demonstrativ Autogrammkarten und Fotos von ihr zerschnitten und verbrannten. Welche Bedrohung es anscheinend darstellt, wenn eine Frau ein feministisches Buch liest…

Nun aber zum Roman an sich:

Leser:innen erhalten einen ungeschönten, sachlich geschilderten Einblick in das Leben der jungen Mutter Kim Jiyoung. Anhand ihrer eigenen Erlebnisse und der Erlebnisse anderer Frauen, deren Leben sich mit ihrem überschneiden, entblättert sich nach und nach ein ernüchterndes Bild der südkoreanischen Gesellschaft. Es geht um die Unterdrückung von Frauen und Mädchen. Es geht um Schein-Emanzipation. Es geht um ständige Mikroaggressionen, es geht um sexuelle Gewalt.

Wir reden hier von Dingen, die in Korea anscheinend vollkommen normal sind (und zum Teil leider nicht nur dort), aber nicht normal sein sollten. Die beim Lesen schmerzen.

Schrecklich, zum Beispiel, dass die Mutter der Protagonistin sich gezwungen sah, ihr drittes Kind abzutreiben – weil es schon wieder ein Mädchen war. Schrecklich, dass das anscheinend gang und gäbe ist. Natürlich, ich habe schon von solchen Geschehnissen und gesellschaftlichen Doktrinen gehört. Aber hier habe ich das Gefühl, dass es mir näher kommt, als das der Fall wäre, läse ich die bloßen Fakten und Statistiken irgendwo auf den Seiten eines Politmagazins oder einer Tageszeitung – dabei ist der Schreibstil eher klar und nüchtern als emotional.

Aber das macht es nur umso deutlicher, wie tief die Bevorzugung von Söhnen und die Unterdrückung von Töchtern integriert ist in das Alltagsleben Koreas. Das ist so eine selbstverständliche, beiläufige Ungerechtigkeit, dass ein Mädchen nur schwer dagegen rebellieren kann, weil sie sonst dasteht als undankbar, garstig, verrückt.

Verrückt wie Kim Jiyoung…?

Ich fühlte mich beim Lesen im Grunde häufiger ernüchtert und kraftlos als wütend – aber ja, wütend war ich auch. In so vielen Ländern ist es immer noch das Gleiche, immer noch die alte Geschichte – Emanzipation hin oder her: dumme Sprüche, verschiedene Anforderungen an Männer und Frauen, Lohngefälle, schlechtere Beförderungschancen für weibliche Angestellte… Oder Übergriffigkeiten wie die Frage, die im Roman bei einem Vorstellungsgespräch gestellt wird: wie frau sich verhalten würde, sollte ein Klient zudringlich werden und sie antatschen.

Denn die vom Arbeitgeber erwartete Antwort zielt keineswegs darauf ab, die Unversehrtheit der Frau zu gewährleisten, sondern die Unversehrtheit der Geschäftsbeziehung zum Klienten. Impliziert wird: Mach keine Schwierigkeiten. Don’t rock the boat. It’s a man’s world. Und so weiter.

Auf nur 208 Seiten beschreibt der Roman im Grunde die ganze weibliche Gegenwart.

Cho Nam-Joo holte mich voll und ganz ab mit ihren Worten – mit einer sehr schlüssigen Verbindung von überzeugenden Charakteren, prägnanten Situationen und generell einer Handlung, die voll und ganz in Korea angesiedelt ist und dennoch eine überraschende Allgemeingültigkeit hat.

Nur ganz am Schluss war ich bass erstaunt, wie schnell die Handlung auf einmal abgehandelt und abgeschlossen wurde! Gerade, als die Protagonistin wirklich am Limit ist, weil sie nicht mehr umgehen kann mit all den Erwartungen und Einschränkungen, klinkt sich die Geschichte aus und wechselt auf eine männliche Perspektive, die im Grunde all das verkörpert, was noch dringend zu ändern wäre. Möglicherweise soll das aber auch die Hilflosigkeit zeigen, und die Tatsache, dass noch sehr viel im Argen liegt?

Dennoch, ich hätte gerne gewusst, wie es danach noch weitergeht mit Kim Jiyoung. Wie ihr Umfeld auf lange Sicht auf ihre psychische Erkrankung reagiert. Wie es ihren vermeintlichen Status weiterhin verändert, ihren ‘Wert’ als Ehefrau und Mutter. Auch wenn der Roman sich auf die Rolle der Frau in der Arbeitswelt und die fehlende Anerkennung in der Gesellschaft konzentriert, sind die psychischen Probleme der Protagonistin ja ein direktes Resultat daraus.

Fazit

Lieblingsbuch

Kim Jiyoung lebt mit ihrem Mann und ihrem Baby in einer kleinen Wohnung am Rande von Seoul. Ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ist klar umrissen in den Erwartungen der koreanischen Gesellschaft, und sie fügt sich: Vor kurzem hat sie erst ihre Karriere aufgegeben, um sich nur noch um die Familie zu kümmern. Aber das, stellt sich heraus, war wohl eine Unterwerfung zu viel. Der Tropfen auf dem heißen Stein, nach einem Leben, das stets von den Männern in Kim Jiyoungs Leben bestimmt und überwacht wurde. Sie entwickelt eine Psychose, die sich stetig verschlimmert. Es ist der Psychiater, der sie wieder ins Lot bringen soll, der danach emotionslos ihre Lebensgeschichte nacherzählt.

Dieser Roman ist zweifelsohne sehr wichtig. Er zeigt, was für einen weiten Weg wir noch vor uns haben, damit Frauen wirklich gleichberechtigt sind – insbesondere Frauen, die Kinder haben und danach nicht ausschließlich auf Kindererziehung und Haushalt reduziert werden wollen. Auch wenn die Geschichte in Korea spielt und die Problematik dort wohl noch einen ganz anderen Stellenwert hat, können sich sicher Frauen aus der ganzen Welt in Kim Jiyoung wiederfinden.

Ich bin froh, das Buch gelesen zu haben, auch wenn der Schreibstil eher nüchtern ist und nicht dazu einlädt, auf emotionaler Ebene mitzufühlen. Trotz dieser Reduziertheit der Sprache war ich traurig, ernüchtert, wütend, denn gerade die minimalistische Klarheit lässt die Ungerechtigkeiten und Schwierigkeiten, mit denen Kim Jiyoung zu kämpfen hat, umso deutlicher hervortreten.

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TitelKim Jiyoung, geboren 1982
Originaltitel82년생 김지영
Autor(in)Cho Nam-Joo
Übersetzer(in)Ki-Hyang Lee
Verlag*Kiepenheuer & Witsch
ISBN / ASIN978-3-462-05328-9 (Hardcover)
978-3-462-31997-2 (eBook)
Seitenzahl*208
Erschienen im*Februar 2021
Genre*Gegenwartsliteratur
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
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