Top Ten Thursday: Highlights aus dem ersten Halbjahr 2022

Top Ten Thursday

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Auf dem [Link] Blog Weltenwanderer gibt es jeden Donnerstag ein neues Thema, zu dem teilnehmende Blogger:innen ihre persönlichen Favoriten vorstellen können. Um Aleshanee, die Hostess der Aktion, einfach mal zu zitieren:

»Im Grunde geht es beim TTT darum, dass man sich mit anderen Bloggern austauscht. Also postet nicht nur einfach euren Link unter meinen Beitrag, sondern geht auch auf Stöberrunde! Man kann zu jederzeit beim TTT einsteigen und es besteht auch keine wöchentliche Teilnahmepflicht.«

Meine Liste für diese Woche

(Die Reihenfolge ist willkürlich!)

Lola Randl: Der große Garten

[Rezension]

Lola Randl: Der Große Garten

Eine Frau sucht neuen Sinn in ihrem Garten auf dem Land – auch wenn sie keine Ahnung vom Gartenbau hat und einfach kreuz und quer pflanzt, was sie gerade schön findet. Ihre gartenaffine Mutter, händeringend, tut sich schwer damit, ihre erwachsene Tochter Fehler machen zu lassen. Und überhaupt, eigentlich sollte auf dem Land doch alles ruhig und einfach sein, aber die Erzählerin muss feststellen, dass sie sich das Leben schon selber kompliziert macht. Da ist ihr Mann, da sind ihre Kinder, da sind ihr Liebhaber, ihr Analytiker und ihre Therapeutin. Und die ewigen Quecken, Maulwürfe und Wühlmäuse.

Lola Randl lässt ein kurzes Kapitel auf das nächste folgen, und die sind randvoll mit Gartenwissen und kurzen prägnanten Einblicken in das Leben der Menschen, die ihr Glück im Garten suchen.

Jessica Lind: Mama

[Rezension]

Jessica Lind: Mama

Ihr ganzes Leben lang träumt Amira schon davon, Mutter zu werden. Sie sammelt Babynamen, stellt sich ihre Tochter vor, ist mit hundertprozentiger Sicherheit davon überzeugt, in der Mutterschaft ihr Lebensglück zu finden. Dass ihr Mann Josef mit der Vorstellung hadert, Vater zu werden, ändert nichts an dieser Überzeugung. Als sie endlich schwanger wird, zerbricht diese jedoch – der Fötus ist für sie kein Baby, sondern ein wurmartiger Parasit. Dies behält sie jedoch für sich, in der Hoffnung, dass die Geburt alles wieder ins Reine bringen wird. Und das tut sie, aber gleichzeitig auch nicht, denn die Wirklichkeit gerät aus den Fugen.

Mutterschaft, postpartale Depression oder gar Psychose, Eheprobleme – Jessica Lind verpackt diese nur zu realistischen Themen in eine Geschichte, die die Genregrenzen überschreitet. Raum und Zeit verschwimmen, ein Märchen scheint auf surreale Weise zum Leben zu erwachen, die Protagonistin verliert vollkommen den Halt, und doch steht im Zentrum stets das Thema Mutterschaft. Als Traum, als Albtraum, als Weg zum Lebenssinn oder als vollkommener Verlust der Selbstbestimmung…

Junge mit schwarzem Hahn

[Rezension]

Stefanie vor Schulte erzählt ein bildgewaltiges, düsteres Märchen, das wie aus der Zeit gefallen wirkt und mich dennoch auch als moderne Leserin begeistern konnte. Wie die alten Märchen, die die Jahrhunderte überdauert haben, ist es eine Geschichte voller Abgründe, voller Grausamkeit, deren Schatten man mit leisem Unbehagen in der eigenen Realität erahnt. Für nötige Balance sorgt ein kindlicher Held, der dem Elend und Leid seiner Welt mutig Liebe und Hoffnung entgegensetzt.

Die Sprache ist großartig, intensiv und beschwörend, die Geschichte verwebt ihre Spannungsfelder und Schlüsselcharaktere in den einfachen Rahmen einer Völksmär. Die Atmosphäre erinnerte mich streckenweise an »Krabat« von Otfried Preußler, doch »Junge mit schwarzem Hahn« ist beileibe kein Abklatsch, sondern etwas ganz Eigenes.

Thomas Arzt: Die Gegenstimme

[Rezension]

Thomas Arzt: Die Gegenstimme

Wir befinden uns im April 1938. In Österreich soll eine Volksabstimmung nachträglich den Anschluss ans Nazi-Regime legitimieren – inszeniert, durchgeplant, mit Demokratie hat das nichts mehr zu tun. Eine Welle der Propaganda und Verblendung überflutet das Land; wer dagegen ist, hält aus Angst meist den Mund. In einem kleinen Dorf herrscht am Wahltag eine perverse Festtagsstimmung: Die eine jubelt im Hitler-Wahn, der andere ersäuft sein Gewissen im Schnaps. Nur Karl, der Sohn des Schusters, kehrt extra heim aus Innsbruck, wo er studiert, um seine Gegenstimme abzugeben.

Das kleine Dorf wird zum Brennglas für diesen Teil der deutsch-österreichischen Geschichte. In kleinem Rahmen zeigt sich die gesamte Bandbreite der menschlichen Fehlbarkeit, der menschlichen Hoffnung, des menschlichen Mutes – auch wenn letzterer eher durch ein verzweifeltes Aufbäumen als durch strahlende Heldentaten Ausdruck findet. Das ist schlüssig und spannend, regt zum Nachdenken an und überzeugt auch sprachlich durch eine gekonnte Mischung aus Hochdeutsch und Dialekt.

Donal Ryan: Die Stille des Meeres

[Rezension]

 Donal Ryan: Die Stille des Meeres

Ein Episodenroman: Drei Männer treffen im kleinen irischen Ort Ardnamoher aufeinander. Farouk ist aus Syrien geflohen und völlig traumatisiert; Lampy wurde von seiner großen Liebe verlassen und ist zornig, traurig und frustriert; John war sein ganzes Leben lang ein schrecklicher Mensch und sucht jetzt auf den letzten Drücker die Vergebung. Sie kennen sich nicht, sie haben scheinbar nichts miteinander zu tun, ihre Leben verliefen in völlig anderen Bahnen. Und doch hat ihr Weg sie hierhin geführt, und Donal Ryan gewährt den Leser:innen vielschichtige Einblicke in die Lebenswirklichkeit seiner Protagonisten.

Der Schreibstil ist mal fast schon poetisch, dann wieder abgehackt und atemlos, ab und an geradezu roh… Der Autor bedient die ganze Klaviatur und erzielt damit eine sehr eindringliche Wirkung; seine Worte spiegeln die Persönlichkeiten seiner Protagonisten in jedem Abschnitt stimmig wider. Die sind meines Erachtens alle sehr komplex und überzeugend gezeichnet, in ihren positiven, aber gerade auch in ihren zwiespältigen oder sogar negativ besetzten Eigenschaften.

Das erzeugt echten Tiefgang, und auch echte Spannung ohne Effekthascherei – für mich ist “Die Stille des Meeres” dementsprechend auch eine echte Leseempfehlung.

Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982

[Rezension]

Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982

Kim Jiyoung lebt mit ihrem Mann und ihrem Baby in einer kleinen Wohnung am Rande von Seoul. Ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ist klar umrissen in den Erwartungen der koreanischen Gesellschaft, und sie fügt sich: Vor kurzem hat sie erst ihre Karriere aufgegeben, um sich nur noch um die Familie zu kümmern. Aber das, stellt sich heraus, war wohl eine Unterwerfung zu viel. Der Tropfen auf dem heißen Stein, nach einem Leben, das stets von den Männern in Kim Jiyoungs Leben bestimmt und überwacht wurde. Sie entwickelt eine Psychose, die sich stetig verschlimmert. Es ist der Psychiater, der sie wieder ins Lot bringen soll, der danach emotionslos ihre Lebensgeschichte nacherzählt.

Dieser Roman ist zweifelsohne sehr wichtig. Er zeigt, was für einen weiten Weg wir noch vor uns haben, damit Frauen wirklich gleichberechtigt sind – insbesondere Frauen, die Kinder haben und danach nicht ausschließlich auf Kindererziehung und Haushalt reduziert werden wollen. Auch wenn die Geschichte in Korea spielt und die Problematik dort wohl noch einen ganz anderen Stellenwert hat, können sich sicher Frauen aus der ganzen Welt in Kim Jiyoung wiederfinden.

Ich bin froh, das Buch gelesen zu haben, auch wenn der Schreibstil eher nüchtern ist und nicht dazu einlädt, auf emotionaler Ebene mitzufühlen. Trotz dieser Reduziertheit der Sprache war ich traurig, ernüchtert, wütend, denn gerade die minimalistische Klarheit lässt die Ungerechtigkeiten und Schwierigkeiten, mit denen Kim Jiyoung zu kämpfen hat, umso deutlicher hervortreten.

Benedict Wells: Hard Land

[Rezension]

Benedict Wells: Hard Land

Der goldene letzte Sommer der Kindheit ist für den 15-jährigen Sam so bittersüß, wie es nur möglich ist. Es ist der Sommer, in dem er sich zum ersten Mal mit Leib und Seele verliebt, und es ist der Sommer, in dem seine Mutter stirbt. Benedikt Wells erzählt das mit Wärme und Humor und Respekt, sodass du ganz ohne billige Effekthascherei beim Lesen die volle Bandbreite der menschlichen Regungen miterlebst – die Himmelflüge und die schwärzesten Momente der Verzweiflung. Da ist immer dieser Gedanke: Die Euphorie, das ist das Leben. Die Trauer, das ist das Leben. Und das Leben geht weiter, immer weiter, und das ist gut so.

Benedikt Wells hat ein unnachahmliches Gespür dafür, mit perfekt dosierten Details Atmosphäre aufzubauen. Er inszeniert eine Epoche, ein Stück Leben so glaubhaft, dass Leser:innen sich unverhofft in den Gefühlswelten seiner Charaktere wiederfinden, und das hat mit Pathos oder Rührseligkeit rein gar nichts zu tun. Man fühlt mit, lacht mit, leidet mit, weil man dabei ist, weil es so echt ist. Liebe, Trauer, Angst und sich blind Hineintasten in die Erwachsenenwelt… Jede:r hat mal einen Sam gekannt oder ist selber Sam gewesen.

Und das erfüllt dich mit ‘Euphancholie’, wie Sams große Liebe Kirstie das nennt: eine Mischung aus Euphorie und Melancholie. Ja, bittersüß ist das wirklich – aber auf jeden Fall wertvoll.

Mareike Fallwickl: Dunkelgrün, fast schwarz

[Rezension]

Mareike Fallwickl: Dunkelgrün fast Schwarz

Den charmanten Raffael und den künstlerisch begabten Moritz verband einst eine Kinderfreundschaft, die viel mit emotionaler Abhängigkeit und der Ausnutzung vermeintlicher Schwäche zu tun hatte und schließlich ein schmerzliches, wohl unvermeidliches Ende fand. Sechzehn Jahre später erwartet Moritz mit der Frau, die er liebt, die Geburt des ersten gemeinsamen Kindes – alles ist gut. Doch dann steht Raffael auf einmal unangekündigt vor der Tür, und die Vergangenheit bricht wieder über Moritz herein.

Dies ist ein Roman, den du als Leser:in am besten selbst entdecken solltest – nicht nur wegen der Charaktere, die geradezu leben und atmen. Er überzeugt durch eine Originalität, die ihresgleichen sucht, von Mareike Fallwickl in Worte gefasst, die sich lesen wie eine ganz neue Sprache der Zwischentöne, der Schattierungen. Da passt einfach alles: der treffsichere Rhythmus der Dialoge, die ungewöhnlichen Bilder und Metaphern, der Spannungsbogen, der sich direkt in die Leser:innenseele bohrt.

Eine ganz klare Leseempfehlung!

Virginia Woolf: Mrs Dalloway

[Rezension]

Virginia Woolf: Mrs Dalloway

Oberflächlich betrachtet, passiert hier nicht viel: Im Jahr 1923 plant Mrs. Dalloway eine Abendgesellschaft und trifft einen alten Verehrer, ein Kriegsveteran wird in eine Klinik eingewiesen. Im Bewusstseinsstrom der Charaktere spiegelt sich jedoch nicht nur die persönliche Innenwelt, sondern auch die britische Gesellschaft der Zwischenkriegszeit, mit all ihren Anforderungen und Erwartungen.

Vergänglichkeit, Krieg, Isolation, Leiden, Unterdrückung, Geisteskrankheit, Sexualität – da werden existentielle Themen angesprochen, und Virginia Woolf wirft Leser:innen mitten hinein in diesen Malstrom, ungefiltert. Wer sich darauf einlassen kann, sollte diesen Klassiker meines Erachtens unbedingt lesen.

Arttu Tuominen: Was wir verschweigen

Arttu Tuominen: Was wir verschweigen

Mein Fazit in Twitterlänge: Eine Geschichte abseits der Genregrenzen: Krimi, Drama? Egal. Es geht um Freundschaft, Schuld, soziale Verelendung, die Bedeutung der Herkunft für Chancen und gesellschaftliche Akzeptanz. Das ist intensiv, packend – die Aufklärung ist zweitrangig.

So, und jetzt geh ich bei anderen Blogs stöbern! Man liest sich!

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