© Cover ›Der Dachs‹: rütten & loening (Aufbau)
© Bild eBook-Reader: Pixabay
Handlung
Zwei Tote werden an die nordbretonische Küste geschwemmt: Flüchtlinge aus dem berüchtigten Lager in Calais »La Jungle«. Was zunächst nach Routine für Ronan Prad von der Gendarmerie Maritime aussieht, wird zu einem brisanten Fall, als ein verschollenes Segelschiff geortet wird. Obwohl man ihn warnt, beschließt Ronan, zu dem Schiff zu tauchen. Nachdem er bei dem Tauchgang knapp einem Anschlag entgangen ist, findet er im Rumpf des Bootes weitere Leichen. Seine Ermittlungen reichen weit in politische Sphären. Auf der Suche nach der Wahrheit muss Ronan nicht nur um sein Überleben kämpfen, sondern er stößt auch auf ein Rätsel seiner eigenen Geschichte: seine Frau, die vor Jahren beim Segeln auf dem Meer verschollen ist.
(Klappentext)
Ostsee, Dünen, Strandboutique?
Ja, ich gestehe: Regionalkrimis habe ich inzwischen einfach satt. Mein Bedarf ist gedeckt. Mir steht’s bis Oberkante Unterlippe, vielen Dank.
Allzu viele davon lesen sich, als seien sie aus den immer gleichen Versatzstücken zusammengesetzt: Herrliche Landschaftsbeschreibungen wirken wie Zitate aus einem Reisekatalog; es gibt mindestens einen schrulligen Dörfler, meist ein alteingesessener Fischer, die Blumenhändlerin oder der Wirt der Dorfkneipe. Überhaupt werden real existierende Geschäfte und Gastronomiebetriebe gerne werbewirksam genannt.
Die Handlungsstruktur ist eher gradlinig, mit nur wenigen Bedeutungsebenen. Die im Mittelpunkt stehende Kommissarin ist oft nach langer Abwesenheit ins Dorf ihrer Kindheit zurückgekehrt, oder der Kommissar wurde erst kürzlich aus der Großstadt in dieses Kaff (straf)versetzt. Es herrscht Dorfidylle, die dann von einem Mord empfindlich gestört wird, zumindest für eine gewisse Zeit, bis die Welt am Schluss wieder heil ist. Die richtige Lektüre für den Strandkorb oder wenigstens die Sonnenliege im Garten.
Dies ist NICHT so ein Krimi.
Bretagne Noir
Obwohl ein paar der eben genannten Punkte durchaus auch auf »Der Dachs« zutreffen, liest sich das Resultat dennoch weder klischeebehaftet noch austauschbar – und schnulzig schon mal gar nicht. Christan Buders Bretagne ist ein Ort düsterer Naturgewalten und klaffender menschlicher Abgründe, in dem sich das Idyll immer wieder ins Gegenteil verkehrt.
Es geht um Flüchtlinge und Schlepper. Es geht um Überfischung. Um das Wegsehen. Um das Schönreden der eigenen moralischen Unzulänglichkeiten. Politische Verwicklungen. Menschliche Gier. Doppelmoral. Und und und.
Gradlinig, schlicht, einfach? Nö.
Jedes Mal, wenn du glaubst, du hättest die Lösung durchschaut – oder zumindest den Überblick über die handelnden Figuren, die Schauplätze und die Hintergrundgeschichten! –, bringt der Autor noch mal etwas Neues ins Spiel. Neue Bedeutungsebenen, neue Beweisstücke, neue Sackgassen und neue Wege. Es wird immer komplexer, und das finde ich persönlich herrlich. Ich liebe Krimis, die mich überraschen und bei denen ich mitdenken muss, bis die grauen Zellen rauchen. Allerdings stieß diese Komplexität in unserem Krimilesekreis nicht auf ungeteilte Begeisterung. Der einen oder anderen war es dann doch zu viel, zu kompliziert, zu verwickelt.
Gut, zugeben, ein paar der Handlungsstränge und Entwicklungen sind wirklich ziemlich verschachtelt.
Leider lässt sich nur schwer erläutern, was mich im Einzelnen störte und was mich begeisterte, ohne schon zu viel über die Handlung zu verraten. Deswegen sei hier nur beispielhaft gesagt: Eine Entwicklung wirkte auf mich zu sehr, als sei sie aus einem Kinofilm gegriffen – James Bond lässt grüßen. Eine andere fand ich hingegen geradezu genial, da sie die Motivation und die persönliche Tragik eines wichtigen Antagonisten in ein ganz neues Licht rückt. Wenn ich jetzt alles auf meine persönliche Waagschale lege, machen die genialen Einfälle die etwas forcierten Elemente insgesamt mehr als wett.
Spannung und Tiefgang reichen sich die Hand
Besonders im ersten Teil des Buches gibt es kaum ein Spannungselement, das nicht auch zum Nachdenken oder zum Hinterfragen der eigenen Werte anregen würde. Das gleicht Passagen aus, in denen die Action sehr hollywoodreif (sprich: übertrieben) wird! In diesen kränkelt die Glaubhaftigkeit, aber insgesamt fand ich die Handlung dennoch schlüssig. Ein paar Dinge bleiben noch offen, die werden dann sicher im nächsten Band (oder einem der nächsten Bände?) geklärt. Dennoch kann man dieses Buch gut lesen, ohne das Gefühl zu haben, man habe keine komplette Geschichte bekommen.
Die Charaktere haben eins gemein: perfekt ist hier keiner, und auch die „Guten“ haben oft ihre Leichen im Keller. Manchmal musst du als Leser:in betroffen feststellen, dass selbst anständige Menschen bereit sind, sich auf zwielichtige Dinge einzulassen, wenn sich die Schuld nur in irgendeiner Form weiterreichen lässt – wenn genug Menschen an einer Untat beteiligt sind, kann sich jede:r einreden, ja nur einen minimalen Anteil daran geleistet zu haben. Christian Buder schreibt meines Erachtens überzeugende Charaktere, die (meist) nicht in Schubladen passen.
Den Schreibstil fand ich überwiegend sehr gelungen, mit stimmigen Bildern, dichter Atmosphäre, flottem Tempo. Nur ab und an empfand ich den Satzaufbau als etwas verunglückt, oder Metaphern eher fraglich. Aber im Großen und Ganzen verbuche ich den Schreibstil als Pluspunkt.
Fazit
In einem kleinen Ort an der nordbretonische Küste: Was anfängt mit zwei toten Flüchtlingen am Strand (tragisch, aber leider nicht ungewöhnlich), offenbart sich schnell als Fall mit enormer Reichweite für Ronan Prad von der Gendarmerie Maritime. In einem fatalen Domino-Effekt stößt eine Entdeckung die nächste an, und was sich da zeigt, ist ein Panoptikum menschlicher Abgründe – auf persönlicher Ebene, auf gesellschaftlicher Ebene, auf politischer Ebene. Und immer wieder lässt es sich runterbrechen auf Gier.
Christian Buder gelingt mit „Der Dachs“ eine ungemein vielschichtige Geschichte, die trotz des Schauplatzes (der Bretagne) definitiv kein stereotyper Wohlfühlregionalkrimi ist. Die Action wurde mir manchmal zu viel und erschien mir übertrieben, die Komplexität und der Tiefgang konnten mich indes durchweg begeistern. Interessante Charaktere, ein ansprechender Schreibstil und originelle Ideen runden die Geschichte ab und machen diesen Krimi zu einem Buchtipp.
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Titel | Der Dachs |
Originaltitel | — |
Autor(in) | Christian Buder |
Übersetzer(in) | — |
Verlag* | ruetten & loening (Aufbau) |
ISBN / ASIN | 978-3-352-00963-1 (Klappenbroschur) 978-3-8412-2923-6 (eBook) |
Seitenzahl* | 462 |
Erschienen im* | April 2022 |
Genre* | Thriller |
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