© Edition Atelier, Wien 2020
Cover, Buchgestaltung & Illustrationen: Jorghi Poll
Fotos des Buches für die Rezension: M. Gottstein
Handlung
“Der Ägyptologe Leo Buri führt ein beschauliches, ruhiges Leben. Bis ihm eines Tages eine rätselhafte Schrift in die Hände fällt, die er nicht entziffern kann und die schlagartig alles verändert. Ohne einen ersichtlichen Grund verhalten sich die Menschen ihm gegenüber plötzlich ablehnend: Seine Freunde wenden sich ab, seine Frau Stefanie trennt sich und die Arbeitskollegen raten ihm, die Stadt zu verlassen. Doch die Schrift übt eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf ihn aus, und so lässt sich Leo auf das Rätsel hinter diesem Spiel aus Zeichen, Anzeichen und Vermutungen ein …”
(Klappentext)
Wunderschön – in vielerlei Hinsicht
“Leo Buri arbeitete damals im Archiv des Instituts für Ägyptologie in Wien. Seine Aufgabe bestand darin, relevante Zeitungsartikel zu sammeln und abzuheften sowie Digitalisierungen von Keilschriften, Hieroglyphen und meroitischen Schriftrollen anzufertigen und zu katalogisieren. Allerdings, so sehr ihn die Nähe der alten Texte auch ehrte, die er als Zeitreisende, Botschafter einer untergegangenen Vergangenheit betrachtete, mehr als ihre stoffliche Erscheinung interessierte Leo Schrift selbst.”
Zitat
Alle paar Seiten dachte ich mir so etwas wie: “Was für ein großartiges Buch, was für eine Freude, was für ein kleiner Schatz!” – und verzweifelte schon im Voraus ob der Aufgabe, eine Rezension zu schreiben und meine Begeisterung zu erklären. Ich glühte für dieses Buch, ich versank voll und ganz darin und hätte gerne auch doppelt so viele Seiten gelesen… Aber warum, warum nur? Das innere Kind bockt: Darum.
Daher fange ich mit etwas an, worauf ich buchstäblich den Finger legen kann: mit den grandiosen Illustrationen. Die sind unglaublich stimmig und visualisieren die Geschichte meines Erachtens nicht nur, sondern erweitern sie und schicken die Gedanken auf wunderbare Abwege. Illustration und Text vereint wirken wie das stark komprimierte Bild einer Wirklichkeit, die nur fast die unsere ist.
Worum geht es hier im Kern?
Was bedeutet diese Irrfahrt eines ganz gewöhnlichen Mannes, der unversehens aus seinem ganz gewöhnlichen Leben vertrieben wird? Die Erzählung lässt alles offen, gibt weder Lösungen noch Erklärungen für den kafkaesk-rätselhaften Abstieg des Protagonisten vor. Ja, sie setzt unzählige Impulse, die zur Interpretation anregen – doch wenn man einmal damit anfängt, das Rätsel entschlüsseln zu wollen, zersplittern die denkbaren Bedeutungsebenen wie Fraktale.
Eigentlich wollte ich Kafka nicht schon wieder in einer Rezension bemühen, aber Leo passt allzu gut in die Ahnenreihe seiner Helden: Wie diesen gehen ihm Freiheit und Selbstbestimmung immer mehr verloren – und wie diese fühlt er sich zunehmend beherrscht von den Gesetzen und Symbolen einer omnipräsenten Macht, die er weder verstehen noch kontrollieren kann. Die Luft wird dünn, so fühlt es sich beim Lesen an, die unsichtbare Last wird erdrückend. Man fragt sich beklommen, ob Unterwerfung und Selbstaufgabe unvermeidlich sind.
Erklärungsansätze gibt es viele, hier nur einer davon:
Leo verliert alles: Arbeit, Wohnung, Freunde, Frau – sogar Heimatland. Er wird des Theaters verwiesen, in Restaurants nicht mehr bedient, überall mit Abscheu oder Mitleid betrachtet. Es ist so, als wisse die ganze Welt von einer unverzeihlichen Ursünde, die Leo selber nicht bewusst ist. Fleht er aber darum, man möge ihm zumindest seine Schuld erklären, wird ihm zu Verstehen gegeben, das müsse er wohl selber am besten wissen. Zuletzt bleibt ihm nur der verzweifelte Wunsch, wenigstens wie ein Mensch behandelt zu werden.
Die Geschichte wird zunehmend surrealer, wie die Art von Traum, aus dem man mit unsäglicher Erleichterung erwacht. Es ist die Kommunikation, die hier zusammenbricht, während Leo sich dem Urteil einer namenlosen Masse ausgesetzt sieht, die ihn ohne Scheu ausgrenzt und anfeindet. Dabei ist er fest verwurzelt in traditionellen (gar antiken) Medien der Kommunikation, während die Menschen, die ihn abweisen, immer wieder über ihre Smartphones wischen.
Der Vergleich mit einer typischen digitalen Hexenjagd liegt wohl nahe, verlegt in eine reale Welt, in der die Hemmschwellen gefallen sind. Leo kann sich weder lösen vom dem, was ihn an diesen Albtraum fesselt (die Schrift), noch den Menschen, die ihm feindlich begegnen, die Macht absprechen.
Das Buch strotzt vor Symbolik, mehr als Ahnungen und leise Möglichkeiten verweigerte mir die Novelle letztendlich indes – was ihre Wirkung aber nicht schmälert.
Sprache und Schrift:
“Zudem versuchte Leo hektisch, als bliebe ihm keine Zeit, sein Schriftsystem zu vollenden, das er als sein wichtigstes Vermächtnis ansah. Offenbar war er der Meinung, es sei ihm gelungen, eine universelle Schrift unserer Zeit zu entwickeln, mit der sich nicht nur alle Sprachen effizient schreiben ließen, sondern die auch so etwas wie ein Wissen über Gesellschaft enthalte, das in jeden mit ihr verfassen Text eingehe.”
Zitat
Das Buch weckt Neugier auf die rätselhafte Welt der Schrift und der Zeichen. Mehr als einmal kribbelte es mir geradezu in den Fingern, mich näher mit der Geschichte und Entwicklung verschiedener Schriftsysteme zu beschäftigen.
Leo arbeitet seit Jahrzehnten an an einer zeitgenössischen Hieroglyphenschrift. Er sammelt Symbole, Gesten und Zeichen – nicht nur aus diversen Schriftsystemen, sondern aus seiner Umgebung, die er abzeichnet und abstrahiert. Form und Inhalt sollen verschmelzen, doch die Zeichen fügen sich nicht zusammen – noch lässt sich damit nicht mal der simpelste Text schreiben. Ein Versuch, neue Ebenen der Kommunikation aufzubauen, weil alte Formen der Kommunikation unserer modernen Welt nicht mehr standhalten? Den Bogen zu schlagen zwischen Vergangenheit und Zukunft?
Im Laufe des Buches begegnet Leo einem jungen Künstler, der sich ebenfalls mit der Trennung von Inhalt und Schrift beschäftigt. So schreibt er zum Beispiel auf große Seiten Übersetzungen lateinischer Texte und beginnt dazu mit dem lateinischen Alphabet, lässt die Zeichen aber allmählich in chinesische Han-Schrift übergehen. Das würde ich zu gerne im echten Leben als Kunstausstellung sehen!
Die Erzählperspektive:
Die Geschichte wird nicht, wie man erwarten könnte, aus der Ich-Perspektive erzählt. Stattdessen erreichen die Erzähl-Fragmente den Leser sozusagen aus dritter Hand: der personale Erzähler, ein Bekannter Leos, bezieht seine Informationen zum großen Teil aus Dokumenten und von einem gemeinsamen Freund, dessen Erinnerungen möglicherweise nicht hundertprozentig zu trauen ist.
Durch den unzuverlässigen Erzähler bleibt der Wahrheitsgehalt der Geschehnisse weiter in der Schwebe und gewinnt den Charakter eines Fiebertraums.
Zu guter Letzt: ein moderner Schauerroman?
Ich habe mir beim Lesen zahlreiche Passagen notiert, mir Wörter und Sätze angestrichen, die eine zum Schneiden dichte Atmosphäre aufbauen. Manches unterstreicht ganz offensichtlich das düstere Ambiente der Geschichte, anderes kommt hingegen mit einer Prise Humor daher – so übernachtet Leo, unser Ritter von der traurigen Gestalt, zum Beispiel im Hotel Schierling in der Essiggasse.
“Beim Nachhausegehen trieb der Wind Leo durch die Straßen, drückte sich durch die Löcher in der Kleidung bis an die nackte Haut und zerrte an seiner Wollmütze. Die Fenster der Hochhäuser stierten bedrohlich auf ihn herab.”
Zitat
Fazit
Dem Ägyptologen Leo Buri wird eine merkwürdige Schrift zugespielt, die er selbst als Experte für zahlreiche alte Schriftarten nicht lesen kann. Und mit einem Schlag verändert sich für ihn alles – Menschen, sogar Unbekannte, schneiden ihn oder begegnen ihm mit offener Aggression, und jeder scheint davon auszugehen, ihm müsse seine enorme Schuld bewusst sein.
Obwohl Leo schnell klar wird, dass es mit der Schrift zu tun haben muss, bringt er es nicht über sich, sie zu vernichten oder sich ihrer zumindest zu entledigen. Er beginnt ein wahres Nomadenleben, das sich immer wieder um die rätselhafte Schrift dreht – eine kafkaeske Abwärtsspirale.
Ich fand dieses kleine Büchlein unwiderstehlich; ich war geradezu bezaubert und las es leider allzu schnell durch. Man muss sich nur von dem Gedanken lösen, am Schluss würde sicher alles aufgeklärt – gerade die Offenheit der Interpretation eröffnet so viele Möglichkeiten, die Novelle mehrmals zu lesen und dabei immer wieder neue Aspekte zu entdecken.
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Titel | Die Schrift |
Originaltitel | — |
Autor(in) | Simon Sailer |
Übersetzer(in) | — |
Verlag* | Edition Atelier |
ISBN / ASIN | 978-3-99065-039-4 (Hardcover) 978-3-99065-045-5 (eBook) |
Seitenzahl* | 120 |
Erschienen im* | September 2020 |
Genre* | Gegenwartsliteratur |
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches |
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