#Rezension Harald Martenstein: Wut

Harald Martenstein: Wut

Ein Rezensionsexemplar des Buches wurde mir von Netgalley im Auftrag des Verlags zur Verfügung gestellt.

© Cover ‘Wut’: Ullstein-Verlag
© Bild Smartphone: Pixabay

Das Erbe des Krieges, der Schrecken einer Kindheit und ein Junge, der nicht vergessen kann

“Frank ist der Wut seiner Mutter ausgeliefert. Sie schlägt ihn, immer wieder. Er steht ihren Träumen im Weg. Erst kam der Krieg, dann das Bordell, wo sie in der Nachkriegszeit Unterschlupf fand, dann die Klosterschule. Und jetzt das Kind.

Eines Tages eskaliert ein Streit, und Frank springt aus dem Fenster. Er kehrt nie wieder nach Hause zurück. Aber die Wut seiner Mutter wird er nicht mehr los.”

(Klappentext)

Vererbte Wut, verkümmerte Liebe

Eine Mutter schlägt ihr Kind. Hart. Wie von Sinnen. Immer wieder. Mit einer Gnadenlosigkeit, die man am liebsten erbrechen würde wie Galle. Sie bespuckt den Sohn, verhöhnt ihn, giert nach einer Reaktion – die er ihr mit kaltem Hass verweigert.

Da musste ich manchmal eine Pause machen. Tief durchatmen, den Kopf frei bekommen. Aber dem Sog des Romans konnte ich mich nie lange entziehen.

Erfindung oder Erinnerung?

Unterschwellig vernimmt man auch in friedlicheren Szenen das dumpfe Dröhnen einer mit Verzweiflung gepaarten Wut – der Klang einer Wahrheit, die beim Lesen erschüttert bis ins Mark. Selbst wenn ich rein gar nichts über den Autor wüsste, würde ich die Hand dafür ins Feuer legen: hier schreibt ein Mensch aus persönlichem Erleben, da steckt viel Biographisches im scheinbar Fiktiven.

Der Autor bestreitet das nicht, sagt im Prolog des Buches jedoch:

“Und dies ist ein Roman, keine Biographie und keine Reportage. Ein Anderer als ich könnte ihn nicht schreiben, denn ich arbeite, wie jeder Romanautor, im Steinbruch meiner Erinnerungen, eigne mir dieses an, verwerfe jenes, erfinde dazu und vergesse. Ich habe mir alle Freiheiten genommen, die das Genre Roman gestattet.”

Ihm gelingt der Drahtseilakt zwischen schonungsloser Darstellung dieser von Gewalt geprägten Mutter-Sohn-Beziehung und psychologischem Feingefühl. Seine Charaktere sind im Guten wie im Schlechten komplex und glaubhaft, auch wenn ihre Beziehung eine Katastrophe ist.

Die Wurzeln der Wut

Harald Martenstein beschönigt nichts, aber er dämonisiert die Mutter auch nicht. Stattdessen gibt er den Ursachen Raum: Maria wächst in der Nachkriegszeit ohne Eltern auf – zum Teil im Bordell der Tante, zum Teil ausgerechnet in einer Klosterschule. Sie ist hochintelligent, will Ärztin oder Anwältin werden, scheitert jedoch am Patriarchat.

Nach Jahren des Frusts, der Erniedrigung und der gescheiterten Träume hat sie ihre Wut nicht mehr im Griff, was später auch ihr Sohn zu spüren bekommt.

Protagonist Frank ist inzwischen ein Mann in mittleren Jahren, schon lange nicht mehr das geprügelte Kind. Er will verstehen, was geschehen ist und warum, vielleicht sogar verzeihen – begreift aber lange nicht, dass er die Wut seiner Mutter als bitteres Erbe in sich trägt. Er führt ungesunde Beziehungen mit nicht weniger emotional verwundeten Frauen, letztendlich mit fatalen Folgen. Gewalt gebiert Gewalt, über Generationen hinweg.

Oder doch nicht?

Das Ende macht einiges, was man als Leser:in für bare Münze genommen hat, wieder ungeschehen, verlegt es ins Reich des Fantastischen – oder der Wahnvorstellung.

Das tut dem Roman meines Erachtens nicht gut; der Realismus der bis dato ungeschönten Handlung wird dadurch zu sehr beschnitten und damit auch die emotionale Wucht der Geschehnisse geschmälert.

Fazit

Schöner Wegbegleiter

Als Kind wurde Frank von seiner Mutter regelmäßig verprügelt, verhöhnt und erniedrigt – bis er als Jugendlicher zurückschlug und dann aus dem Fenster sprang. Jetzt ist Frank im mittleren Alter, seine Mutter dement, und er will verstehen, vielleicht sogar verzeihen.

Harald Martenstein erzählt die Geschichte der Mutter, beleuchtet die Ursachen ihrer unstillbaren Wut. Parallel muss sein Protagonist erkennen, wie sehr er diese Wut selber in sich trägt.

Der Roman ist harte Kost, dabei aber nicht übertrieben oder effektheischend. Die Charaktere werden lebendig und glaubwürdig beschrieben, die Sprache trifft genau den richtigen Ton zwischen Unterhaltung und Ernsthaftigkeit. Einzig das Ende stellt in meinen Augen einen unpassenden Bruch dar, da es Elemente der Handlung abseits der Realität wieder rückgängig macht.

Rezensionen zu diesem Buch bei anderen Blogs

Wallis Büchersichten
Lesendes Federvieh

Empfehlungen aus dem gleichen Genre

Chris Kraus: Scherbentanz
Ane Riel: Harz
Angela Lehner: Vater unser

TitelWut
Originaltitel
Autor(in)Harald Martenstein
Übersetzer(in)
Verlag*Ullstein
ISBN / ASIN9783550201202 (Hardcover)
9783843724609 (eBook)
Seitenzahl*272
Erschienen im*Februar 2021
Genre*Gegenwartsliteratur
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
Die folgenden Links kennzeichne ich gemäß § 2 Nr. 5 TMG als Werbung :

Das Buch auf der Seite des Verlags
Das eBook auf der Seite des Verlags
Das Hörbuch bei BookBeat

signature (Leider musste ich die Kommentarfunktion auf WordPress
wegen massivem Spam und Botattacken ausstellen!)