© Cover ›Kangal‹: S. Fischer Verlage
Handlung
Dilek und Tekin sind ein junges Paar in Istanbul. Nicht erst seit dem Juli 2016 hat sich auch für sie die Stadt verändert. Als Dilek Jahre später in ein Flugzeug steigt, weiß ihr Freund nichts davon, niemand soll wissen, dass sie, die online »Kangal« heißt, bald in Frankfurt landet. Ayla ist überrascht, als ihre Cousine Dilek sich bei ihr meldet, die gemeinsamen Sommer sind lange her. Und während sich Tekin in Istanbul auf die Suche macht, fragt sich Ayla: Wer ist Dilek heute? Sie will ihr glauben, aber ist das, was Dilek fürchtet, auch wahr?
(Klappentext)
Anna Yeliz Schentke erzählt furchtlos und aufrichtig von der Freundschaft in instabilen Zeiten. »Kangal« ist ein atemloser Roman über aktuelle Unterdrückung und über eine Generation, die auf der Suche ist: nach einer gemeinsamen Sprache, nach Sicherheit und Zugehörigkeit.
Der keinen Namen braucht
Der Putschversuch des türkischen Militärs gegen die Regierung Erdoğan ist noch nicht lange her. Der verhängte Ausnahmezustand erlaubt es dem türkischen Präsidenten, per Dekret zu regieren; die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit wird immer weiter eingeschränkt. Es kommt zu Massenverhaftungen, Bildungseinrichtungen werden geschlossen, der Putsch dient als Rechtfertigung für eine zunehmende Beschneidung der Grundrechte und für eine erbarmungslose Kontrolle der Opposition.
Dies ist die Situation, in deren Kontext »Kangal« angesiedelt ist. Im Zentrum der Geschichte stehen zwei junge Frauen – Kusinen und als Kinder engste Freundinnen –, die einen sehr unterschiedlichen Blick auf die Geschehnisse in der Türkei haben. Beide sind in der Türkei geboren worden, aber während Dilek ihr ganzes bisheriges Leben dort verbracht hat, ist Aylas Familie schon vor einigen Jahren nach Deutschland ausgewandert. Ihre Mütter zerstritten sich damals bis aufs Blut, so dass die beiden Mädchen sich aus den Augen verloren.
Wenn die Freiheit erodiert
Dilek ist im Geheimen regierungskritisch, führt einen entsprechenden Blog unter dem Namen Kangal1210 und muss nun fürchten, dass jemand ihr Alibi verraten hat. Gibt es schon eine Akte über sie? Ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie verhaftet wird? Eingesperrt, gefoltert? Sie flieht nach Deutschland, in der Hoffnung, bei Ayla Unterstützung zu finden – und doch mit der Angst, sogar Ayla könnte sie verraten.
“Mit den Türken musst du vorsichtig sein, weil wenn die rausfinden, dass du Oppositionelle bist, dann bist du in Gefahr. Die haben ihre Kontakte, das heißt, du kannst nie wieder zurück. Und mit den Deutschen ist es auch schwierig, die denken immer erst mal, dass man den gut findet, dass man religiös ist oder nationalistisch. Den einen darfst du nicht sagen, dass du dagegen bist, den anderen musst du es sagen. Und du musst direkt erkennen, wer wer ist.”
(Zitat)
»Tun so, als ob man drüben direkt eingeknastet wird, wenn man mal was sagt.«
Ayla hingegen weiß nicht so recht, was sie glauben soll. Kann es in der Türkei denn wirklich so schlimm sein? Ist das nicht übertrieben, paranoid? Gegenüber Dilek traut sie sich nicht, ihre Zweifel auszusprechen, doch eine Freundin von ihr hat da keine Skrupel. Es würden doch so viele jedes Jahr in die Türkei fahren, und niemandem wäre etwas passiert! Da tut sich eine Kluft auf, nicht mal aus böser Absicht. So wie der Unglaube Ayla sprachlos macht, steht Dilek deren Zweifeln in ohnmächtiger Erstarrung gegenüber. Wie soll sie etwas erklären, das für sie so allgegenwärtig ist, dass es keiner Erklärung bedarf?
Ayla hat auch so genug eigene Probleme. Vor kurzem hat sie ihren Verlobten verlassen, weil der sie schlug, und fühlt sich jetzt in das Klischee der armen unterdrückten Türkin gedrängt. Außerdem geht sie heimlich zur Uni, denn ihre Eltern beharren da tatsächlich noch auf veraltete Ansichten. Tradition und Moderne – gerade in Deutschland lebende Türk:innen können sich oft nicht aus den alten Strukturen lösen. Und sie sind es dann auch, die aus der Ferne Erdoğan wählen.
Im Hinterraum
Obwohl Dilek und Ayla im Mittelpunkt stehen, kommen auch andere Menschen zu Wort, wie Dileks Freund Tekin, der Angst hat, sie niemals wiederzusehen und daher versucht, herauszufinden, ob es denn überhaupt wirklich eine Akte über sie gibt. Ein wenig blauäugig ist er ja schon – oder hat er Recht und Dileks Flucht war übereilt? Leser:innen können sich da nie sicher sein, denn auch die Charaktere selber leben in diffuser Unsicherheit und gerade darum oft in bleierner Angst.
Dann gibt es da noch Soraya und Hilal, ein lesbisches Pärchen, das zu Dileks und Tekins Freundeskreis in Istanbuld gehört. Zweimal küssen sie sich im Club, auf dem Heimweg wird Hilal verprügelt und verliert ein Auge. Die Bedrohung als kritischer Mensch, die Bedrohung als Frau, die Bedrohung als lesbische Frau… Die Bedrohung hat viele Gesichter und sucht sich ihre Rechtfertigung ganz von allein. Und die Angst, die würzt das Ganze noch mit fehlgeleiteter Schuldzuweisung und Denunziation. Wie praktisch, dass es dafür sogar eine App gibt – ein paar Zeilen, ein paar Klicks, mehr braucht es nicht, um ein Leben zu ruinieren. Die Freiheit wird quasi im Keim erstickt.
“Die Angst ist nachhaltig und wendig. Sie erwischt dich im Alltag, bei der Familie, auf der Arbeit, in der Liebe. Aber wir sind, daran denken ich jeden Tag, und ich muss glauben, dass es so ist, nur im Hinterraum. Wir sind nicht auf dem Müll gelandet. Wir sind nur im Hinterraum.”
(Zitat)
Angst isoliert
Auch in Deutschland können Türk:innen sich nicht unbedingt gegenseitig trauen – diese Erosion der Gemeinschaft, des Zusammenhalts, spielt den Machthabern in die Hände. Regierungskritischen Personen wird so der sichere Hafen genommen, an den sie sich sonst flüchten könnten: Die Familie, die Freunde in Deutschland sind kein verlässlicher Schutz mehr. Wer hat die App, wer ist bereit, sie zu benutzen? Das ist das Gift der Diktatur, das durch die kleinste Ritze in den privaten Raum sickert.
“Die Frau im Supermarkt an der Kasse kam mir bekannt vor. Auf ihrem Schildchen stand ein türkischer Name. Ich hatte kurz die Phantasie, sie anzusprechen, einfach ein bisschen Smalltalk hätte mir gereicht. Aber was, wenn sie Ismi lazim değil gut findet? Könnte sie mich kennen? Wer sind ihre Eltern? Vielleicht haben sie Freunde? Vielleicht braucht es keinen Einfluss, vielleicht hat sie die App und meldet mich an den türkischen Staat.”
(Zitat)
Fazit
Die Charaktere in »Kangal« blicken aus sehr unterschiedlichen Perspektiven auf das, was nach dem Putschversuch des Militärs im Jahr 2016 in der Türkei passiert. Anna Yeliz Schentke erzählt in ungemein eindringlichen Worten und mit messerscharfer Präzision davon, wie Menschen durch ihre Angst kontrolliert bzw. instrumentalisiert werden; die geschickt konstruierte Geschichte rast durch die kurzen Kapitel, in fieberhafter Intensität, und verliert dennoch nicht den Blick für die Graustufen. Auf kleinstem Raum gibt sie allen Charakteren eine Stimme für ihre Ängste, ihre Hoffnungen, ihre Bedenken, ihre Wünsche – ihre ganz reale Bedrohung.
Wer hat Recht, wer hat Unrecht, so einfach macht es die Autorin ihren Leser:innen nicht. Aber dieses beeindruckende Debüt bietet auf jeden Fall einen differenzierten Einblick in die Lebenswirklichkeit der Menschen, deren Existenz von diesem Putschversuch auf die eine oder die andere Art verändert wurden. Hier wird niemand klein geredet oder lächerlich gemacht, denn auch Unverständnis oder Unwissen haben ihre Wurzeln in einem System, das Wissen und Selbstbestimmung auf perfide Art und Weise beschneidet.
Der türkische Präsident wird übrigens im ganzen Buch nie namentlich genannt. Er ist nur “Ismi lazim değil” – der, der keinen Namen braucht.
“Kangal” ist das Patenbuch der Buchpreisblogger Björn Brolewski & Katharina Hößler
Instagram: @_kalliopeia
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Dr. Klaus Berndl
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Titel | Kangal |
Originaltitel | — |
Autor(in) | Anna Yeliz Schentke |
Übersetzer(in) | —- |
Verlag* | S. Fischer |
ISBN / ASIN | 978-3-10-397081-4 (Hardcover) 978-3-10-491392-6 (E-Book) |
Seitenzahl* | 208 |
Erschienen im* | März 2022 |
Genre* | Gegenwartsliteratur |
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches |
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