Übersetzung von Nikolaus Stingl
© Cover ›Erschütterung‹: Hanser Literaturverlage
© Bild eBook-Reader: Pixabay
»Ein zartes, gewaltiges Kunststück« (The New York Times)
Ich beginne meine Rezension mit diesem kleinen, großen Kuriosum:
Die englische Originalausgabe, »Telephone«, ist in drei verschiedenen Versionen erhältlich, deren Cover so minimal voneinander abweichen, dass sie auf den ersten Blick identisch erscheinen. So weit, so unspektakulär.
Aber tatsächlich finden sich auch im Inhalt mehr oder weniger auffällige Abweichungen! Viele davon sind nahezu bedeutungslos: hier ein Semikolon statt einem Komma, da ein Satz in indirekter statt direkter Rede. In einer Version wurden alle Kapitelüberschriften durch Buchtitel von Thomas Hobbes ersetzt. Dazu kommen scheinbare Fehler, wie zum Beispiel ein Highway, der durch die in einer Version angegebene Nummer eigentlich in einem anderen Bundesstaat verlaufen müsste.
All diese Unstimmigkeiten zusammengenommen erzeugen schon einen Grundton des Unwirklichen, des unbehaglichen Zweifels. Hier liegt die Erklärung für den Titel des Romans: »Telephone« ist der Name des Spiels, das im Deutschen »Stille Post« heißt. Bei jeder Station gehen Informationen verloren und werden verzerrt. Aber die drei Versionen des Buches haben durchaus auch gravierendere Unterschiede: Gedanken führen zu zu Handlungen oder auch nicht. Pläne werden durchgezogen oder auch nicht. Auch die jeweiligen Enden sind nicht zu hundert Prozent deckungsgleich.
Welch passender Rahmen für die Geschichte eines Vaters, dessen Welt aus den Angeln gehoben wird! Meines Wissens gibt es aber nur eine deutsche Version.
Jetzt aber zur eigentlichen Rezension:
Der Protagonist
Paläontologe Zach Wells hat sich in einem Leben ohne Höhepunkte und Besonderheiten eingerichtet; er wird es nicht müde, die Leser:innen darauf hinzuweisen, dass er nichts Besonderes ist. In seinem Beruf ist er zwar durchaus erfolgreich, innerhalb seines Forschungsgebiets eine Koryphäe – jedoch, so betont er, sind andere Menschen in vielerlei Hinsicht doch deutlich intelligenter, aufregender, interessanter als er. So ganz kaufe ich ihm das ja nicht ab, dieses Gegenteil von Selbstbeweihräucherung, das sich dennoch anfühlt wie Prahlerei … Zack suhlt sich förmlich in seiner vermeintlichen Gewöhnlichkeit, aber da ist immer auch eine Spur staubtrockener Humor. Ein Augenzwinkern, das sagt, dass er sicher seiner eigenen Intelligenz dann doch bewusst ist. Ein kleiner Funke Licht, der die Melancholie durchbricht.
Übrigens dauerte es eine Weile, bis ich begriff, dass Zach schwarz ist. Es wird weder ausdrücklich gesagt, noch angedeutet, bis es im Rahmen der Geschichte tatsächlich eine Rolle spielt. Percival Everett sagte einmal in einem Interview mit NBC News:
»Unless there’s a reason to specify race in a scene, why should I feel compelled to do so? I don’t think I have to have my character cross 125th Street and Lenox Avenue and comb his afro in the first 10 pages.«
(»Wenn es keinen Grund gibt, in einer Szene Rasse zu erwähnen, warum sollte ich mich gezwungen fühlen, dies zu tun? Ich glaube nicht, dass ich meine Figur auf den ersten zehn Seiten über die 125th Street und Lenox Avenue laufen lassen und ihren Afro kämmen lassen muss.«)
Seine Ehe
In seiner Ehe zelebriert Zach ebenfalls die zufriedene Gewöhnlichkeit, das emotionale Understatement. Er mag seine Frau, aber er liebt sie nicht, und er glaubt, dass ihr das umgekehrt genauso geht. Warum sollte er etwas daran ändern? Es funktioniert doch, er vermisst da nichts; es gibt keine Höhen, aber auch keine sonderlichen Tiefen. Zugegeben, manchmal sitzt er in seinem Auto und erwägt, sich umzubringen. Aber das sind nur kurze Episoden, kein Grund zur Beunruhigung. In der Stasis fühlt sich Zach in seinem Element.
Seine Tochter
Nur die Liebe zu seiner Tochter überwindet das Mittelmaß, durchbricht Zachs Lethargie. Er liebt sie ohne jede Zurückhaltung; die intelligente 12-Jährige ist sein Stern, sein Lebenssinn. Daher erschüttert es seine Welt in den Grundfesten, als sie zunehmend schlechter sieht, auf einmal böse Patzer beim Schach macht und letztendlich eine Diagnose erhält, die auf schrecklichste Art außergewöhnlich ist. Schon vor der unvermeidlichen Tragödie zerreißt Zach die Trauer, als habe er Sarah bereits verloren.
Als er in einem gebraucht gekauften Hemd einen versteckten Hilferuf findet, stürzt er sich auf die neue Aufgabe wie auf einen Rettungsring. Er kann seine Tochter nicht retten, daher muss er stellvertretend irgendjemanden retten. Hier wird das Drama manchmal geradezu zum Krimi, was auch Leser:innen kleine Fluchten erlaubt.
Geht es hier um Trauer?
Ja und nein und indirekt dann doch. Das offensichtliche Grundthema des Romans ist die wortwörtlich zum frühen Tode verurteilte Vater-Tochter-Beziehung, aber dahinter stehen allgemeingültigere Leitmotive:
Immer wieder geht es um die Dichotomie von Stillstand und Wandel – wobei anklingt, dass wir auch im Wandel nicht vollkommen frei sind. Herkunft, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Bildung und finanzielle Situation unserer Eltern, all das bestimmt die Möglichkeiten, die uns tatsächlich zur Verfügung stehen. Zach stünden alle Wegen offen, um sich neu zu erfinden, ein Leben des steten inneren Wachstums zu führen, aber er wählt immer und immer wieder die Stasis, mal bewusst, mal unbewusst.
Seine gewählte Stasis spiegelt sicher nicht zufällig die ihm aufgezwungene Stasis: Sein Vater setzte seinem eigenen Leben ein Ende, seine Tochter verliert ihre Persönlichkeit schon vor ihrem drohenden Tod. Zwei Beziehungen, durch den Tod bis in alle Ewigkeit eingefroren.
Es geht um Trauer, ja. Es geht um Schuld und Erlösung. Es geht darum, wie wir irgendwo zwischen Absicht und Aktion die Kontrolle über unsere Leben verlieren können. Es geht um emotionale Wahrheiten, die auch im Angesicht kalter Fakten nicht weniger wahr werden. Und immer wieder ist da so ein Gefühl, dass die Geschichten, die wir uns selber erzählen, nicht weniger wichtig sind als das tatsächliche Geschehen.
Laut und deutlich unausgesprochen
Der Schreibstil lässt aufhorchen, überzeugt mit feiner Selbstironie und psychologischer Prägnanz. Das Ungesagte spricht klar und deutlich aus den Pausen, den Brüchen; es sind gerade die Leerstellen, in denen die Charaktere einen ungeahnten Tiefgang entwickeln. Trauer, Schmerz, Angst, Verzweiflung, das alles springt dich als Leser:in aus den Seiten geradezu an, ohne jegliches Pathos, ohne Betroffenheitskitsch. Der feine Humor ist Balsam für die geschundene Leser:innenseele.
Everetts Prosa ist oft distanziert, manchmal schmerzlich roh, immer zum Niederknien schön.
Fazit
Der Paläontologe Zach Wells existiert in selbsterwähltem Stillstand. Er ist leidlich zufrieden mit seiner Arbeit, seiner Ehe, seinem Leben, warum also etwas ändern? Nur die Liebe zu seiner Tochter Sarah ist ein Lichtblick, ein strahlender Komet am Himmel seiner Mittelmäßigkeit. Als das kleine Mädchen jäh erkrankt – unheilbar, unerträglich – erschüttert das Zachs Existenz in den Grundfesten. Er kann nicht umgehen mit der eigenen Hilflosigkeit; die bislang so bequeme Stasis wird zur Zwangsjacke, die ihn sehenden Auges und klaren Verstands zur Untätigkeit verdammt.
Als er in einem gebraucht gekauften Kleidungsstück einen Hilferuf findet, stürzt er sich in eine dramatische Übersprungshandlung – eine Rettungsaktion, die ihn in die Wüste New Mexicos und in Lebensgefahr bringen wird.
Percival Everett erzählt eine Geschichte voller feiner Nuancen und tiefsinniger Bedeutungsebenen, und das in einer wunderbaren klaren Sprache, die ohne Pathos mitreißt und bewegt. Mir wird “Erschütterung” sicher lange im Gedächtnis bleiben, und ich habe vor, jetzt auch alle anderen Bücher des Autors zu lesen. (Noch sind nicht alle ins Deutsche übersetzt, aber das macht nichts, ich lese auch gerne auf Englisch.)
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Titel | Erschütterung |
Originaltitel | Telephone |
Autor(in) | Percival Everett |
Übersetzer(in) | Nikolaus Stingl |
Verlag* | Hanser Literaturverlage |
ISBN / ASIN | 978-3-446-27266-8 (Hardcover) 978-3-446-27334-4 (E-Book) |
Seitenzahl* | 288 |
Erschienen im* | Januar 2022 |
Genre* | Gegenwartsliteratur |
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches |
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