#Rezension Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson

Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson

© Cover ‘Herzklappen von Johnson & Johnson’: Suhrkamp
© Bild Smartphone: Pixabay

Handlung

“Alma und Friedrich bekommen ein Kind, das keinen Schmerz empfinden kann. In ständiger Sorge um ihren Jungen, ist es vor allem Alma, die ihn unaufhörlich auf körperliche Unversehrtheit kontrolliert. Jeden Abend tastet sie das Kind ab, um keine Blessur zu übersehen. Und nichts fürchtet die junge Mutter mehr als die unsichtbare Verletzung eines Organs, die ohne ein Zeichen bleibt.

Halt findet Alma bei ihrer Großmutter, die jetzt, hochbetagt und bettlägerig und nach lebenslangem Schweigen, zu erzählen beginnt: vom Aufwachsen im Krieg, von Flucht, Hunger und der Kriegsgefangenschaft des Großvaters. Mit dem Kind auf dem Schoß, das keinen Schmerz kennt, sitzt Alma am Bett der Schwerkranken, die sich nichts mehr wünscht, als ihren Schmerz zu überwinden. Und in den Geschichten der Großmutter findet sie eine Erklärung für jene scheinbar grundlosen Gefühle der Schuld, der Ohnmacht und der Verlorenheit, die sie ihr Leben lang begleiten.”

(Klappentext)

Kongenitale Analgesie: neun Silben für die Abwesenheit von Schmerz

Kann ein Kind ohne Schmerzen, das die Aspekte der Verwundbarkeit auswendig lernt wie Vokabeln, sich zu einem mitfühlenden Wesen entwickeln – und das in einer Familie, die Jahrzehnte der Schuld und des Traumas stumm weiterreicht?

Der Klappentext lässt vermuten, der kleine Emil sei der Protagonist – der Charakter, auf dem für einen Großteil des Buches das Hauptaugenmerk liegt, aber vor allem der Akteur, der die Geschichte aktiv vorantreibt. Tatsächlich wird er jedoch erst zur Hälfte des Buches geboren, und auch danach sieht man die Dinge höchst selten aus seinem Blickwinkel. Der Leser betrachtet ihn vielmehr durch die Augen seiner Mutter Alma von außen, besorgt und fasziniert.

Erbin der Kriegsgeneration

Alma ist schon als Kind hochintelligent, hinterfragt alles, sperrt sich gegen Erwartungen – beobachtet die familiären Strukturen wachen Auges und erahnt die sorgfältig versteckten Abgründe. Sie, die vom Krieg nichts wissen kann, spürt dessen Nachwehen in der emotionalen Kälte des Elternhauses. Die Großmutter fängt erst an, über die schlimme Zeit zu reden, als die Demenz ihr die Hemmungen raubt, der Großvater ist wenig mehr als eine stille Abwesenheit.

“Das Bild der gelben Narzissen in den Händen der alten, nackten Frau, ihre Gänsehaut über der haarlosen Scham, diese asketische Galgenschönheit, die dem Tod vorausging, sollte Alma ihr Leben lang nicht mehr vergessen.”

Später, erfährt der Leser, lernt Alma Friedrich kennen und lieben, was nach einer langen Fernbeziehung zu einem mehr oder weniger glücklichen Miteinanderleben ohne Illusionen und zu Emils Geburt führt – gefolgt von einer Wochenbettdepression und der erschütternden Erkenntnis, dass Emil anders ist.

Es sind Alma und ihre Großeltern, die für einen Großteil des Buches auf der Bühne der Geschehnisse stehen, doch Emil ist durch seine Analgesie Inbegriff und gleichzeitig Kontrapunkt der Thematik. Seine Schmerzlosigkeit unterstreicht vergangenes und gegenwärtiges Leid.

Unverwundbare Verletzlichkeit

Emil legt die Hand auf die heiße Herdplatte, weil die Brandblasen so lustig blubbern. Er rammt sich einen Stift so heftig in den Arm, dass er steckenbleibt. Sein Kinderzimmer ist geschmückt mit unzähligen Röntgenaufnahmen, eine Galerie gebrochener Knochen und lädierter Organe.

“Es waren intime Porträts, der vollständige Bauplan eines Kindes, ein ganzes gespenstisches Menschengerüst von den Zehenknöchelchen bis zur Schädelkalotte hing an den Zimmerwänden. Immer wieder staunte Alma, das man so leicht zerbrechen und doch so aufrecht stehen konnte.”

Alma kümmert sich aufopfernd um ihn, widmet ihr waches und träumendes Leben seiner Unversehrtheit. Gleichzeitig regt seine Schmerzblindheit sie dazu an, der Familiengeschichte nachzuspüren, dem Schmerz und der Schuld von Generationen.

Denn was eint die Menschen mehr als der Schmerz?

Es ist ein Empfinden, das jeder kennt, das keiner Erklärung bedarf. Emil jedoch, der Schmerzlose, der Unschuldige, wird zum Symbol: fleischgewordene Sühne, das Negativbild seines Urgroßvaters, dessen Kriegstraumata und Kriegsverbrechen niemals beim Namen genannt werden.

Dabei wirkt es fast so, als seien auch ihre Körper Abbilder des jeweils anderen: während Emil nach unzähligen Knochenbrüchen Schrauben und Metallplatten in sich trägt, wurde sein Urgroßvater nur durch die titelgebenden Herzklappen aus Metall am Leben erhalten.

In Alma wächst die Entschlossenheit, bestimmte Orte aus dessen Kriegserleben mit eigenen Augen zu sehen, um mit dem ererbten Leid abschließen zu können – um die schuldbewusste Traurigkeit zu verbannen, die die Familie umgibt wie ein dunkles Miasma.

Knochensplitter und Fragmente der Wahrheit

Der Schreibstil ist großartig. Ruhige, fast schon karge Sätze entfalten sich in bestechend präzisen Beobachtungen, die ein Stück Leben nach dem anderen aus dem Würgegriff der vermeintlichen Normalität befreien. Das ist mal der einsame Alltag eines frühreifen Kindes, mal die persönliche Hölle eines Kriegsgefangenen, mal das stille Leiden einer gebrechlichen Alten.

Dann folgen wiederum traumhafte Passagen mit fast schon lyrischem Timbre. Die Autorin schildert die Geschehnisse einfühlsam und subtil, in wunderschönen Formulierungen und klaren, eindrücklichen Bildern – ohne zu beschönigen oder kleinzureden.

Das Wesen des Mitgefühls

Die Autorin hat ein besonderes Gespür für den Schmerz, den alltäglichen wie den außergewöhnlichen: sie sieht das, was nicht zusammenpasst, was zuwiderläuft, was hätte sein sollen aber nicht ist. Man atmet erstaunt auf, nur um dann bekräftigend zu nicken: ja, so ist das. Auch das, was vom eigenen Leben so weit entfernt ist wie nur irgend möglich, hat den Klang der Wahrheit, den Widerhall des selbst Erlebten.

Fazit

Buchliebling

Der Roman erstreckt sich über vier Generationen einer Familie: vom Urgroßvater, über dessen Opfer- und Täterschaft im Krieg nicht gesprochen wird, bis hinunter zum Urenkel, der durch einen Gendefekt keinen Schmerz empfinden kann.

Für mich war “Herzklappen von Johnson & Johnson” ein Roman mit unwiderstehlicher Sogwirkung – alleine schon wegen der großartigen Sprachmelodie, aber die Autorin konnte mich auch inhaltlich voll überzeugen.

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TitelHerzklappen von Johnson & Johnson
Originaltitel
Autor(in)Valerie Fritsch
Übersetzer(in)
Verlag*Suhrkamp
ISBN / ASIN978-3-518-42917-4 (Hardcover)
978-3-518-76464-0 (eBook)
Seitenzahl*174
Erschienen im*Februar 2020
GenreGegenwartsliteratur
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
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