#Rezension Miku Sophie Kühmel: Kintsugi

Miku Sophie Kühmel: Kintsugi

Ein Rezensionsexemplar des Buches wurde mir von Netgalley im Auftrag des Verlags zur Verfügung gestellt.

© Cover ‘Kintsugi’: Verlag S. Fischer
© Bild Smartphone: Pixabay

Die Schönheit im Versehrten sehen

Kintsugi (“Goldverbinden”) oder auch Kintsukuroi (“Goldreparatur”) ist ein Stück japanischer Kultur, das sich wie kaum etwas anderes als Metapher eignet.

Kurz gesagt handelt es sich um ein traditionelles Kunsthandwerk, bei dem zerbrochenes Porzellan mit einem Lack geklebt wird, in den Pulvergold (manchmal auch Silber oder Platin) eingestreut wurde. Das Ergebnis hat eine herzzerreißende Schönheit – aus einem Bruch wird so etwas, das man wertschätzen kann.

Narben, Risse, Sprünge, Splitter, Brüche.

Sie ziehen sich subtil durchs ganze Buch: hier splittert zum Beispiel das Eis, dort ist die Borke eines Baumes rissig… Die Umgebung spiegelt wieder, was in den Charakteren vorgeht. Besonders eine Teeschale wird zum Sinnbild: sie zerbricht und wird so repariert, dass es außer dem Verursacher niemand auch nur bemerkt – später zerbricht sie ein zweites Mal.

Die Geschichte summt mit einer leisen Melancholie, die gleichermaßen schmerzt und tröstet: Kummer, der seine Schönheit entfaltet. Auch das ist Kintsugi. Dies ist meines Erachtens ein Buch zum Langsamlesen, zum Bewusstwerden und Nachspüren.

Die Stille ist der Unruhe Herr

Vier Menschen treffen sich im stillen Haus am See: Max und Reik sind seit zwanzig Jahren ein Paar, das soll im kleinen Rahmen gefeiert werden. Eingeladen sind Tonio, ihr bester Freund, und dessen Tochter Pega, die von allen drei Männern großgezogen wurde.

Doch natürlich verläuft das Wochenende nicht wie geplant.

Vermeintliche Harmonie entpuppt sich als Trugschluss, alte Verwundungen und Sehnsüchte verursachen Risse, die immer weiter auseinanderklaffen, im scheinbar soliden Freundschaftsgefüge. Doch da ist so viel Liebe, dass man als Leser die Hoffnung hat, die Versehrtheiten am Schluss golden glitzern zu sehen.

Max, Reik, Tonio, Pega

Universitätsprofessor Max hat autistische Züge. Er, der in einer Hippiecommune aufgewachsen ist, braucht seine Routinen, klammert sich an seine Ordnung, schafft sich Sicherheit durch so qualitativ hochwertige wie schlichte Besitztümer. Jedes Ding hat seinen genau festgelegten Platz. Wenn er sich hinauswagen muss in eine Welt, in der er sich nie wohlzufühlen scheint, trägt er stets seine Büchertasche mit sich herum.

Reik, getrieben von einem steten Drang nach Aufmerksamkeit, passt nicht in eine gesellschaftliche Norm, was von ihm als weltberühmtem Künstler aber auch nicht erwartet wird. Der Sohn einer alleinerziehenden Alkoholikerin ist in allem, was er tut, intensiv – und leidet zugleich an katastrophalen depressiven Abstürzen. Er ist chaotisch und unordentlich, weiß die zeitlose Eleganz, die Max so viel Halt gibt, nicht zu schätzen.

Tonio ist Klavierspieler und hätte ein Pianist von Weltruhm werden können – wäre er nicht als Student schon zum alleinerziehenden Vater geworden, nachdem er der Mutter des Kindes die Abtreibung ausgeredet hatte. Sein eigener Vater verließ die Familie, als Tonio noch ein Kind war. Früher war Tonio einmal Reiks erster Freund und trauert der Beziehung auch mehr als zwanzig Jahre später noch hinterher.

Pega ist als Gemeinschaftsprojekt der drei Männer aufgewachsen, ohne dass ihre Mutter ein Teil ihres Lebens gewesen wäre, und versucht als junge Erwachsene, sich aus ihrer Kinderrolle zu befreien und gleichzeitig eine frühe Sehnsucht zu verwirklichen.

Irrtümliche Annahmen, die im Laufe der Jahre zum stillschweigenden Dogma geworden sind. Alter Groll, aber auch Wunschdenken, das seit Kindheit und Jugend auf kleiner Flamme gärt. Dies sind die Dinge, die den Fokus verstellen und verhindern, dass sich Max, Reik, Tonio und Pega gegenseitig noch unverfälscht wahrnehmen können.

Aus dem Zwischenspiel der verschiedenen Blickwinkel, wobei diese gegensätzlichen Persönlichkeiten sich gegenseitig zur Projektionsfläche werden, ergibt sich das Bild eines komplexen Geflechts menschlicher Gefühle.

Die Sprache auf der Zunge der Zeit

Miku Sophie Kühmel schreibt in klaren, prägnanten Worten, die eine unprätentiöse Sogwirkung entwickeln. Nur manchmal wird sie vielleicht etwas zu detailliert – andererseits macht Sinn, dass jeder Baum und jedes Regal beschrieben werden, denn die Persönlichkeiten der Charaktere spiegeln sich deutlich wieder in ihrer Umgebung.

Jeder der vier Hauptcharaktere kommt in seinem eigenen langen Kapitel zu Wort. Zwischen zweien dieser Kapitel wechselt der Roman jeweils von der Ich-Perspektive in eine szenische Darstellung, in der es zu einem Konflikt kommt, der mehr oder weniger erhitzt ausgetragen wird.

Diese Szenen betrachten die Geschehnnisse von außen, so dass eine neutrale Position eingenommen wird, bevor der nächste Charakter übernimmt. Quasi das Ingwer zur Geschmacksneutralisierung zwischen zwei Stücken Sushi.

Das Ende ist wieder von einer wunderschönen, bittersüßen Melancholie geprägt.

Das Porzellan muss erst brechen, bevor man an Kintsugi überhaupt denken kann. Aber sie ist da, die Hoffnung auf Gold.

Fazit

Max und Reik sind seit zwanzig Jahren zusammen und wollen das mit ihrem Freund Tonio und seiner Tochter Pega feiern. Sie treffen sich wie üblich im kleinen Haus am See, doch das Wochenende läuft nicht wie erwartet. Ganz leise und unspektakulär bilden sich Haarrisse im Fundament der Freundschaft – oder waren sie schon lange da, blieben aber unbeachtet?

Für mich ist “Kintsugi” ein Herzensbuch, das ganz ohne Kitsch ein breites Spektrum an Gefühlen hervorruft. Dazu gehören verschiedene Formen von Liebe, aber auch Trauer, Schmerz, Wut, Enttäuschung und Angst. Das Gesamtbild ist jedoch nicht trostlos oder deprimierend, sondern entwickelt gerade an den Bruchstellen eine atemberaubende Schönheit.

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TitelKintsugi
Originaltitel
Autor(in)Miku Sophie Kühmel
Übersetzer(in)
Verlag*S. Fischer
ISBN*9783103974591 (Printbuch)
9783104911120 (eBook)
Seitenzahl*304
Erschienen im*September 2019
GenreGegenwartsliteratur
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
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