#Rezension Louise Welsh: Das Alphabet der Knochen

Das Alphabet der Knochen

© Cover ‘Das Alphabet der Knochen’: Büchergilde
© Foto: A.M. Gottstein

back to Blacklist – Bücher haben kein Verfallsdatum

Handlung

Literaturwissenschaftler Dr. Murray Watson ist schon seit Teenager-Tagen fasziniert von dem eher unbekannten Poeten Archie Lunan, der vor über dreißig Jahren sehr jung und unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Murray beschließt, endlich zu handeln und eine Biografie Lunans zu schreiben, bevor der begabte Dichter, der nur einen einzigen Gedichtband hinterlassen hat, in Vergessenheit gerät. Doch sein Nachlass ist mager. Nur ein paar rätselhafte Satzfragmente, eine Liste mit Namen, die Murray nicht zuordnen kann…

Das erfordert mehr als theoretische Recherche, und so begibt Murray sich zur ‘Feldforschung’ auf die Insel Lismore, Lunans letzten Wohnort. Nach einigen frustrierenden Sackgassen findet er letztendlich eine Spur über die berühmte Schriftstellerin Christie Grave – und ist sich bald nicht mehr so sicher, ob er wissen will, wohin sie führt.

Wer war Archie Lunan? In was war er verwickelt?

Colorful Brain

Erst möchte ich den Elefanten im Raum aussprechen: die Figur der Christie Grave leidet an Multipler Sklerose, einer Krankheit, mit der ich selber schon lange lebe. In der ersten Hälfte des Buches hatte ich noch den Eindruck, das sei gut recherchiert – tatsächlich klang es dort so, als habe sie rSPMS, die gleiche sekundär progrediente Verlaufsform wie ich.

Zugegeben, für diese Verlaufsform gab es zu der Zeit, in der das Buch geschrieben wurde, noch keine zugelassenen Medikamente mit hoher Wirksamkeit, aber dennoch galt auch damals: unheilbar, mit ansteigendem Grad der Behinderung, aber nicht tödlich. Wenn sie doch zum Tode führt(e) dann meist indirekt, wie zum Beispiel durch eine nicht erkannte Sepsis bei Bettlägrigkeit. Aber in der zweiten Hälfte schildert Christie ihren baldigen Tod, als sei er ein unbestreitbarer Fakt, und auch ihre Symptome erscheinen mir nicht hundertprozentig realitätstreu.

Obwohl das für mich Punktabzug bedeutete, wird es die meisten nicht-betroffenen Leser natürlich nicht so sehr stören.

Aber genug davon – jetzt kommen wir dazu, wie mir das Buch ansonsten gefiel.

Die Nachforschungen laufen oft nebenher und sind im ersten Teil des Buches nicht nur langwierig, sondern auch erfolglos. Währenddessen erfährt man viel über Murrays Leben – und darüber, dass er anscheinend überall eine Frau findet, die er begehren kann. Und nicht nur das: es gibt anscheinend auch mehr als genug Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts, die bereit für eine kleine Bettgeschichte ohne Verpflichtungen sind. Da kam mir Murray fast vor wie der James Bond der Literaturwissenschaft.

Natürlich beschreibt die Autorin das nicht ohne Grund.

Man kann erahnen, das Murrays Besessenheit mit Archie Lunan vor allem eine tiefe Sehnsucht verschleiert. Eine Suche nach dem eigenen Selbst und der eigenen Bedeutung – und möglicherweise die knochentiefe Angst, dass da nichts von Wert zu finden ist… Die Frauengeschichten, so könnte man spekulieren, sind vielleicht nur die Droge, die diese Angst betäuben soll.

Oder ist eine Affäre manchmal nur eine Affäre? Und die Suche nach Archie Lunan nur eine jugendliche Begeisterung, wieder zum Leben erweckt durch die Midlife-Crisis?

Ich war hin- und hergerissen zwischen gesuchtem Tiefgang und empfundener Belanglosigkeit. Ich wollte wissen, wie Lunan starb und warum – das Nebenher hinterließ bei mir jedoch einen schalen Beigeschmack, obwohl die Geschichte an sich sehr viel Potential für Tiefgang und Spannung bietet.

In vielen Szenen kann das Buch immerhin mit Atmosphäre punkten.

Dann schwingt es sich auf zum düsteren Ambiente eines klassischen Schauerromans, da fehlten nur noch krächzende Krähen und ein verräterisches Herz. Die Sümpfe sind tief und tückisch, die Nächte ‘bibelschwarz’ und stürmisch…

In diesen Szenen nahm mich das Buch tatsächlich gefangen und ich begann zu erahnen, warum dieses Buch als Klassiker des Genres gehandelt wird.

Der Schreibstil hat einen sehr ansprechenden Fluss und Sprachrhythmus, mit interessanten Wortneuschöpfungen und Metaphern, wie es einem Literaturwissenschaftler von Murrays Format geziemt. Nur die Dialoge sind manchmal etwas langatmig, dafür hat die Sprache in vielen Passagen eine geradezu ergreifende Schönheit. Das macht in meinen Augen einen Teil der sonstigen Diskrepanzen wieder wett – dennoch kann mich die Umsetzung der Thematik nur eingeschränkt überzeugen.

Für mich ist das Buch weder so richtig Fleisch noch Fisch.

Für einen Kriminalroman mangelt es ihm einfach an Spannung und Tempo, für Gegenwartsliteratur an echtem Tiefgang und schlüssigen Charakteren.

Die Geschichte dreht sich zu oft und zu lange im Kreis, verliert sich zu sehr in Nebensächlichkeiten. Sie bekommt die Kurve erst sehr sehr spät – ganz am Schluss baut sich auf einen Schlag die fehlende Spannung auf, aber das kommt meines Erachtens etwas zu plötzlich. Die Erzählung kann auch nur bedingt mit interessanten Charakteren punkten, denn viele bleiben Versatzstücke, in meinen Augen eher Bühnenbild für Murrays persönliches Drama.

Vieles, das Potential hat, wie zum Beispiel das zerrüttete Verhältnis zwischen Murray und seinem Bruder, wird nur angerissen, während die Autorin bei anderen Dingen zu sehr ins Detail geht und die Geschichte dort daher zu konstruiert wirkt.

Fazit

Sorgenkind

Dr. Murray Watson, seines Zeichens Literaturwissenschaftler, will eine Biografie über den Dichter Archie Lunan schreiben, den er schon als Teenager verehrte, der aber jung starb, ohne es je zu Ruhm zu bringen oder mehr als einen Gedichtband zu veröffentlichen. Seine Recherche bringt ihn auf die Insel Lismore, den letzten Wohnort Lunans, wo seine Nachforschungen aber zunächst ins Leere laufen – und als sie dann endlich ins Rollen kommen, fragt Murray sich schon bald, ob er wirklich wissen will, was passiert ist.

Die Grundidee klingt großartig, letztendlich konnte das Buch mich jedoch trotz seiner wunderbaren Sprache nicht überzeugen. Zu langsam für einen Krimi und zu seicht für Gegenwartsliteratur dümpelt die Handlung meinen Empfindens vor sich hin, obwohl man an jeder Ecke spürt, dass hier um ein Haar etwas Großartiges entstanden wäre.

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TitelDas Alphabet der Knochen
OriginaltitelNaming the Bones
Autor(in)Louise Welsh
Übersetzer(in)Wolfgang Müller
Verlag*Büchergilde Gutenberg
ISBN / ASIN9783763263943 (Hardcover)
Seitenzahl*429
Erschienen in*2011
GenreKriminalroman
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
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