#Rezension Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

Ein Rezensionsexemplar des Buches wurde mir von Netgalley im Auftrag des Verlags zur Verfügung gestellt.

© Cover ‘Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise’: dtv
© Bild Smartphone: Pixabay

Handlung

“Warum sitzt ein unauffälliger Mensch wie Paul Hansen im baufälligen Gefängnis von Montréal? Der in Frankreich aufgewachsene Sohn eines dänischen Pastors und einer Kinobesitzerin hatte schon einiges hinter sich, bevor er seine Berufung als Hausmeister in einer exklusiven Wohnanlage in Kanada fand. Ein Vierteljahrhundert lang lief alles rund – die Heizungsanlage ebenso wie die Kommunikation, bis Paul eines Tages die Sicherung durchbrennt.

Nun erträgt er mit stoischer Ruhe seinen Zellengenossen Patrick, einen Hells-Angels-Biker, der sich jedoch von einer Maus ins Bockshorn jagen lässt. Paul hat viel Zeit zum Nachdenken – Zeit für tragikomische Lebenslektionen und unerwartetes Glück.”

(Klappentext)

Das verfluchte Schlingern der menschlichen Seele

Der Schreibstil ist vielfältig: mal kurz, auf den Punkt und lapidar, dann von einer dunklen Poesie und voller atmosphärischer Bilder. Sogar Szenen augenzwinkernder Komik finden sich, und man sollte meinen, das würde alles nicht zusammenpassen – aber die Mischung macht’s!

Stilistisch wie inhaltlich überzeugte mich gerade die stimmige Balance von Gegensätzen, die dem Roman eine ganz eigene Note gibt.

Manchmal fand ich den ein oder anderen Satz etwas zu verschachtelt, aber das wird durch eine ausdrucksstarke Formulierungskunst locker wettgemacht. Normalerweise bin ich skeptisch, wenn unwichtige Details scharenweise auftreten, aber hier sorgen sie für sehr viel Ambiente, und trotz zahlreicher Nebenschauplätze las sich für mich alles wie aus einem Guss.

Aber es ist nicht nur der Schreibstil, der überzeugt.

Jean-Paul Dubois schreibt großartige Charaktere, die man ins Herz schließt, über die man lacht – und natürlich auch solche, die man nicht ausstehen kann. Manche kokettieren mit den Klischees: der Autor spielt damit, sie erst wie mit der Schablone zu zeichnen und dann doch über die Linien zu malen.

Das ungleiche Duo:

Besonders Patrick Horton, Pauls Zellengenosse, ist in meinen Augen sehr gelungen. Mir gefällt, welche Gegensätze er in sich vereint. Der Hells Angel zuckt nicht mit der Wimper, wenn es darum geht, Menschen zu verletzen, die er als Feinde sieht – doch er sitzt auch stundenlang da und malt in kindlicher Konzentration mit Buntstiften. Wie er mit Paul umgeht, zeigt, dass er vom Naturell her eigentlich ein gutmütiger Mensch wäre, der aber durch einen schwierigen Start ins Leben auf Abwege gedrängt wurde. In vielen Szenen wird offensichtlich, dass er durchaus Prinzipien hat – wenn auch recht infantile, einfach gestrickte.

Paul Hansen dagegen wirkt wie ein ruhiger, friedlicher Mann, der sich von dem leiten lässt, was er als gut und richtig empfindet – man kann sich kaum vorstellen, was der unbescholtene Hausmeister verbrochen haben könnte, um im Gefängnis zu landen. In resignierter Akzeptanz resümiert er indes Begebenheiten, die schon vor vielen Jahren passiert sind, und nach und nach setzt sich das Puzzle zusammen.

“Das Gefängnis verschlingt uns, verdaut uns, und, zusammengerollt in seinem Bauch, gekauert in die nummerierten Falten seiner Gedärme, zwischen zwei Magenkrämpfen, schlafen und leben wir, so gut es geht.”

(Zitat)

Die Familie:

Rückblick: die Lebensentwürfe von Pauls Eltern könnten kaum weniger kompatibel sein. Mutter Anna Margerit zeigt skandalöse Filme in ihrem Programmkino und bringt damit Vater Johanes in Schwierigkeiten, der sich ohnehin mehr und mehr desillusioniert fühlt als Pastor. Insgeheim sieht er seine Predigten nur noch als Zaubertrick, als Farce, als Mittel zum Broterwerb, so dass man sich fragt: warum sucht er sich keinen anderen Beruf? Ist es der Stolz, der ihn treibt, oder die vage Hoffnung, den Glauben doch noch wiederzufinden? Dass er eine große innere Leere verspürt, zeigt sich, als er der Spielsucht verfällt.

Freundschaft und Liebe:

Paul denkt in der Zelle viel an Nouk, seine “ewige Hündin, Schwimmerin in den Weihern und Läuferin auf den Wiesen” – eine zutiefst berührende, reine Zuneigung zwischen Mensch und Hund.

Zu guter Letzt soll Pauls große Liebe Winona Mapachee erwähnt werden – eine starke Frau, unerschrockene Pilotin, halb Irin, halb Algonkin-Indianerin. Hier tappt das Buch nicht in die Kitschfalle und rührt dennoch ans Herz – mehr möchte ich hier noch nicht verraten.

Das große Ganze

Szenen aus dem Gefängnis wechseln sich ab mit Rückblicken auf das Leben verschiedener Charaktere. Die Geschichte hat den Leser am Haken, weil er sich fragt, was Paul verbrochen hat, aber man will auch wissen, was aus den Menschen wird bzw. wurde, die man ins Herz geschlossen hat.

Die Toten sind dabei immer anwesend, mehr oder weniger buchstäblich. Drei davon besuchen Paul regelmäßig des Nachts. Das ist auf verschiedene Art spannend, selbst in den ruhigen Passagen – man sollte sich indes auch auf Herzschmerz einstellen. Hier zerschellt mehr als eine Welt an der grausamen Realität.

„Wir waren beisammen, die Toten und der Lebende, aneinandergeschmiegt, um uns gegenseitig das zu geben, was wir auf grausame Weise vermissten, ein wenig Wärme und Trost.“

(Zitat)

Man ist gerührt, man lacht, man fühlt sich erschüttert… Einmal habe ich geweint, ich gebe es zu – das Buch deckt die volle Bandbreite ab, von Slapstick bis Tragödie. Selbst gesellschaftskritische Elemente fehlen nicht, so muss Paul in bitterer Ernüchterung erkennen, dass Kosten-Nutzen-Rechnungen höher bewertet werden als grundlegende Menschlichkeit.

Fazit

Paul und Patrick teilen sich eine Zelle. Paul ist unauffällig, friedlich, ruhig – Patrick ist ein im Gefängnis gefürchteter Hells Angel. Daraus entwickelt sich eine unwahrscheinliche Freundschaft, während sich der Leser fragt: was hat Paul eigentlich verbrochen?

Buchliebling

Sowohl inhaltlich als auch stilistisch fand ich den Roman einfach großartig; für mich hat er echten Tiefgang, auf einzigartige Weise verpackt. Die Charaktere sind komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheinen, und man kauft sie dem Autor auch dann noch ab, wenn sie mit Klischees liebäugeln.

In meinen Augen ist mehr als verdient, dass das Buch 2019 den Literaturpreis Prix Goncourt erhielt.

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TitelJeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise
OriginaltitelTous les hommes n’habitent pas le monde de la même facon
Autor(in)Jean-Paul Dubois
Übersetzer(in)Nathalie Mälzer
Uta Rüenauver
Verlag*dtv
ISBN / ASIN978-3-423-28240-6 (Hardcover)
978-3-423-43811-7 (eBook)
978-3-7424-1663-6 (Hörbuch) 
Seitenzahl*256
Erschienen im*Juli 2020
GenreGegenwartsliteratur
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
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