#Rezension Helena Adler: Die Infantin trägt den Scheitel links

Helena Adler: Die Infantin trägt den Scheitel links

Ein Rezensionsexemplar des Buches wurde mir von Netgalley im Auftrag des Verlags zur Verfügung gestellt.

© Cover ‘Die Infantin trägt den Scheitel links’: Jung und Jung
© Bild Smartphone: Pixabay

Handlung

“Dass sie, die jüngste Tochter, das zarte Kind, den Bauernhof ihrer Eltern abfackelt, ist nicht nur ein Versehen, es ist auch Notwehr. Ein Akt der Selbstbehauptung gegen die Zumutungen des Heranwachsens unter dem Regime der Eltern, einer frömmelnden, bigotten Mutter und eines Vaters mit einem fatalen Hang zu Alkohol, Pyrotechnik und Esoterik. Von den älteren Zwillingsschwestern nicht zu reden, zwei Eisprinzessinnen, die einem bösen Märchen entsprungen sind und ihr, der Infantin in Stallstiefeln, übel mitspielen, wo sie nur können. Und natürlich fehlen auch Jäger, Pfarrer und Bürgermeister nicht in dieser Heuboden- und Heimatidylle, die in den schönsten Höllenfarben gemalt ist und in der es so handfest und herzhaft zugeht wie lange nicht.

Dieses Buch ist ein Fanal, ein Feuerwerk nach dem Jüngsten Gericht unter dem Watschenbaum. Es erzählt von Dingen, als gingen sie auf keine Kuhhaut. Schrill, derb, ungeschminkt, rotzfrech und hart wie das Landleben nach dem Zeltfest und vor der Morgenmesse. Eine sehr ernste Angelegenheit, ein sehr großer Spaß!”

Zartbesaitet wie krachlederner Scheunenpunk

Die selbsternannte Infantin teilt gnaden- und respektlos aus – keine Heidi von der Alm, eher die zornige Schwester von Pippi Langstrumpf. Sie kotzt der Leserin Wut und Liebe und Verachtung und Freude und Angst gleichermaßen ungehemmt vor die Füße.

Das liest sich wie ein knallbunter Drogenrausch, der zwischendurch jäh zum Horrortrip wird: da tun sich in der Landidylle Abgründe auf. Wenn die Infantin mal Luft holt und nicht mit den bestiefelten Füßen stampft, hört man die leise Verzweiflung hinter all dem Bravado.

Es geht hier gar nicht so sehr um Handlung, um eine Abfolge von konkreten Geschehnissen, sondern um Lebensgefühl und Emotion. Von einem klassischen Spannungsbogen kann man kaum sprechen: es passiert zwar viel, meist aberwitzig und mit Paukenschlag, aber meines Erachtens geht es mehr darum, was das in den Charakteren auslöst.

Allerdings lesen sich die meisten davon wie übersteigerte Prototypen, verdrehte Klischees – Subtilität ist in meinen Augen nicht beabsichtigt. Vielleicht ist es sogar eher ein Rohrschachtest auf Speed: was sehe ich als Leserin in diesen Charakteren, was sagt das über mich aus?

Sprachlich ist das mal was ganz anderes.

Die Sprache wirkt nie naiv oder verkitscht, selbst wenn Helena Adler aus Sicht der kindlichen Infantin schreibt. (Anfangs ist sie erst sechs Jahre alt.) Ich hatte den Eindruck, dass hier nicht wirklich das Kind spricht – die erwachsene Erzählerin übersetzt sich die Gefühlswelt ihrer Kindheit in Worte und erobert sie sich damit von Neuem. Dadurch bleibt jedoch auch immer eine Distanz zwischen der Erwachsenen und dem Kind, und damit auch zwischen der Leserin und dem Kind.

“Ich bemerke nicht, wie die Kerze umfällt. Das Stroh zu lodern beginnt. Die Holzwände zu knistern. Ich suhle mich im Dreck meiner selbst diagnostizierten Sozialverwaisung, während neben mir der Stall abbrennt und mein Kinderreich rodet.”

“Das ist Sprachwucht!” steht in meinen Notizen, “Das ist Fabuliervergnügen!” Auch Adjektive wie “ausdrucksstark” und “evokativ” tummeln sich darin – allerdings oft mit einem darauffolgenden “aber”.

Zum Beispiel:

Als Anti-Heimatroman ist “Die Infantin trägt den Scheitel links” originell und kraftvoll geschrieben, aber oft auch sehr überladen.

Helena Adler treibt die Klischees der Heimatliteratur auf die Spitze.

Sie verkehrt sie ins Gegenteil, reizt das in plastischen Bildern und ungeschönten Worten aus, bis vom Idyll wirklich nichts mehr übrig ist.

»Tanz, Bär!«, schreit sie und schärft ihre Krallen an den eigenen Zähnen. Die Krallen der Mutter sind messerscharf. Gelb und schrecklich sind ihre hakenförmigen Klauen, am liebsten jagt sie kleine Angsthasen und Faultiere wie mich. Ihr spitzer Schnabel ist ein Hackebeil, damit kann sie Gelenke brechen und Knochen zerschmettern.”

Ihre Protagonistin, die als Kind schon ungewohnt heftig die Grenzen austestet, rechnet als Jugendliche mehr und mehr ab mit der ländlichen Sippenhaft, mit den festgefahrenen Wegen und den sexistischen Verhaltensmustern. Sie wünscht sich Selbstbestimmung und Weite – bricht mit Generationen von sturem “Das war schon immer so und wird auch immer so sein!”

Das ist heftig, derb, schräg, vulgär – in jeder Tonart intensiv und schwarzhumorig. Oft liest sich das wirklich witzig, wird meines Erachtens aber auch immer wieder gnadenlos überreizt. Zu viel, zu laut, zu schrill, geradezu grotesk und in diesen Passagen eine Spur zu weit weg vom Glaubhaften. Irgendwann klingeln einem einfach die Synapsen.

Bei allem Humor vertrieb mich das Buch jedoch auch aus der Komfortzone.

Und das ist gut so, denn es regt zum Nachdenken an und zerschlägt das gefrorene Meer im Leser wie Kafkas Axt.

Die Rebellion der Landkinder hat selbstzerstörerische Aspekte: Alkohol, Drogen, und wahlloser, ungeschützter Sex – mit Folgen. Die 12-jährige Anna zerschrammt sich beim Sex die Knie, um ihr Ansehen zu steigern, und man fragt sich: wo sind die Erwachsenen?

Nur um sich dann unbehaglich in Erinnerung zu rufen, wie ungeeignet die im Roman beschriebenen Erwachsenen sind, als guter Einfluss zu dienen. Auch hier kippt die Stimmung schnell; unterschwellig schwären ohnmächtiger Zorn und Selbsthass.

Noch ein Hinweis:

Jedes Kapitel wird vom Titel eines Gemäldes eingeleitet – es lohnt sich, diejenigen nachzuschlagen, die man nicht präsent hat, denn sie geben dem Geschehen eine zusätzliche Ebene der Bedeutung

Fazit

Die Infantin, wie sie sich selber nennt, wächst auf dem Bauernhof der Eltern auf, von verklärt-romantischer Heimatidylle ist jedoch weit und breit nichts zu sehen, ganz im Gegenteil. Das ist böse, das ist frech, das ist laut – und ohne jeden Zweifel hochoriginell.

Ich musste das Buch nach dem Lesern erst eine Weile sacken lassen. Ich hatte das Gefühl, dass mir etwas Wichtiges entging, dass ich noch nicht wirklich verstanden hatte, WARUM die Geschichte so erzählt wird und WAS sie mir sagen soll.

Sorgenkind

Letztendlich bin ich zum Schluss gekommen, dass mir die Sprachgewalt genauso imponiert wie die Chuzpe der Protagonistin, mir persönlich das Ganze jedoch inhaltlich und stilistisch oft zu viel wird. Ich bereue nicht, das Buch gelesen zu haben, vollends begeistern konnte es mich aber nicht.

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TitelDie Infantin trägt den Scheitel links
Originaltitel
Autor(in)Helena Adler
Übersetzer(in)
Verlag*Jung und Jung
ISBN / ASIN978-3-99027-242-8 (Hardcover)
Seitenzahl*192
Erschienen im*Februar 2020
GenreGegenwartsliteratur
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
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