Rezension: »Hundert Augen« von Samanta Schweblin

»Hundert Augen« von Samanta Schweblin

Titel der Originalausgabe: Little Eyes
Übersetzung von: Marianne Gareis
Verlag der dtsch. Ausgabe: Suhrkamp

Bist du Herr oder Wesen?

Du hast sowas wirklich noch nie gesehen? Echt nicht? Ok, dann hör zu:

Diese Dinger heißen ‘Kentukis’, und sie sind überall – ob in China, den USA oder in Norwegen, die sind in jedem Land der Welt der letzte Schrei. Mal ein ganz anderes Leben führen, ohne die eigene Wohnung zu verlassen? Ja! Ein Mittel gegen die quälende Einsamkeit? Auch das. Ein hippes Spielzeug für den übersättigten Nachwuchs? Na klar.

Aber auf den ersten Blick nicht sehr beeindruckend, was? Flauschige Plüschtiere halt, die mit Kamera und Mikrofon ausgestattet sind und sich auf kleinen Rädern fortbewegen können. Aber jetzt kommt der Clou:

Es gibt zwei Arten von Kentuki-Nutzern, »Herren« und »Wesen«.

Willst du »Herr« sein, dann kaufst du dir eines der Plüschis. Willst du »Wesen« sein, kaufst du dir einen Zugangscode für die App. Jedes Kentuki verbindet sich beim ersten Einschalten mit einem zufällig ausgewählten User, der dann per App das Kentuki steuern und durch seine ‘Augen’ sehen kann. Ja klar, auch durch seine ‘Ohren’ hören. Verstehst du? In meinem Kentuki da steckt sozusagen ein Mensch drin, der uns gerade beobachtet! Wer? Öh, keine Ahnung. Das könnte jeder sein. Was? Nee, wieso? Da kann doch nichts passieren!

Das Kentuki nimmt mich auf Video auf, stimmt. Ja, auch… meine Kinder… Oh Gott.

»Hundert Augen« entwirft ein Szenario, das nur allzu glaubhaft ist.

Menschen sind schließlich auch in unserer Realität bereit, persönliche Informationen ungefiltert preiszugeben. Nichts daran fühlt sich unmöglich oder auch nur unwahrscheinlich an.

Samantha Schweblin verzichtet auf plumpe Erklärungen und zeigt stattdessen in vielen kleinen Szenen mögliche Motive für diese unkritische Vernetzung, sowie mögliche Auswirkungen und Gefahren. Sie beleuchtet exemplarisch die verschiedensten Aspekte dieser Thematik: Identität, Wahrnehmung, Kommunikation, die Fragilität unserer persönlichen Realität. Eindringlich stellt sie Fragen nach der Verantwortung, die wir eingehen, wenn wir uns mit anderen verbinden.

Fazit

Gern gelesen

Insgesamt ist das Buch sehr vielschichtig und bietet Raum für reflektierte Interpretation, ist aber wenig überraschend, weil es so nahe an unserer Realität ist. Ich hätte mir gewünscht, dass Samantha Schweblin die Dinge etwas mehr auf die Spitze treibt, um eine gewisse Dringlichkeit zu erreichen – die Geschichte ist wenig erschreckend, weil wir im Grunde schon in dieser Realität leben.

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