Titel der Originalausgabe: Ankomst
Übersetzung von: Hanna Granz
Verlag der dtsch. Ausgabe: Suhrkamp
Verlag des Originals: Peirene Press
Inhaltsverzeichnis
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Handlung
Das grundlegende Thema
Die Arktis als Schauplatz und Sinnbild
Die Charaktere
Spannungsbogen
Schreibstil
Fazit
Selbstbegegnung und Selbstverlust
Handlung
In diesem Roman passiert nicht viel.
Mitten im Polarwinter bezieht eine Wissenschaftlerin eine karge Hütte in der Arktis, um dort ein paar Monate lang die Auswirkungen des Klimawandels auf die Zugvögelpopulationen zu beobachten. Ihr Geliebter soll bald nachkommen und diese Zeit mit ihr verbringen.
In diesem Roman passiert sehr viel.
Wirkungsvoll beschreibt die Autorin, wie eine Frau sich in der Einsamkeit findet und gleichzeitig verliert. Freiheit wird zu Einsamkeit, Luft zum Atmen wird zu klaustrophobischem Wahn. Ein intimer Einblick in eine isolierte Lebenswelt.
Das grundlegende Thema
Der norwegische Originaltitel ist »Ankomst«, was schlicht »Ankunft« bedeutet. Ein einfaches Wort, das sich in diesem atmosphärischen Roman in eine Vielzahl von Bedeutungsmöglichkeiten aufsplittert.
Bevor hier irgendjemand irgendwo ankommt, sehen wir der Protagonistin dabei zu, wie sie sich in ihren Beziehungen verliert. Ehe, Mutterschaft, neue Liebschaft: Sie sucht nach Freiheit, sie sucht nach Erfüllung, doch letztlich tauscht sie nur einen Käfig gegen den nächsten. Wo beginnt und endet sie, was sind ihre ureigensten Wünsche und Träume, ihre autarke Persönlichkeit? Ihr Ex-Mann, ihr Kind, ihr Geliebter überlagern ihre Selbstwahrnehmung. Unwissentlich hat sie sich diesen Käfig selbst gewählt – ja, selbst erbaut! –, verwechselt Geborgenheit mit klaustrophobischer Enge.
Letztlich wird aus der geplanten Ankunft des Geliebten die ungeplante Ankunft der gnadenlosen Selbsterkenntnis. Kann sie verantworten, ihr Kind in der Obhut eines Mannes zurückgelassen zu haben, den sie als gewalttätig beschreibt? Ist der Geliebte ihre Obsession überhaupt wert?
Die Arktis als Schauplatz und Sinnbild
In der Arktis wird die Protagonistin zurückgeworfen auf sich selbst. Die Zivilisation ist weit entfernt, Kontakt kann sie nur über das Satellitentelefon aufbauen, und das ist zu teuer, um es oft zu benutzen. Auch diese Einsamkeit ist eine Art von Ankunft, aber eine, die sie noch nicht annehmen kann. Denn Selbsterkenntnis war nicht ihr Ziel, als sie diesen Forschungsaufenthalt plante – ganz im Gegenteil.
Eigentlich sollte ihr Geliebter ja zeitig nachkommen und dann einige Monate mit ihr in dieser kleinen Hütte verbringen; ihr Plan war die ultimative symbiotische Zweisamkeit. Eine ersehnte Ankunft, die viel mehr bedeutet als nur der schnöde Akt des irgendwo Eintreffens – doch vor allem eine Ankunft, die ausbleibt, die ihr Geliebter immer wieder verschiebt. Und so wartet sie und hofft, wartet und zweifelt, wartet und verliert den Halt. Die Realität ist ein zunehmend unwirkliches Konzept.
Die Arktis ist der perfekte Schauplatz für diese Geschichte. Himmel und Erde verschmelzen mitunter zu einem endlosen Weiß, die Grenzen sind nicht mehr wahrzunehmen. Das kann gefährlich sein, wenn man sich in diesem schwerelosen Nichts verirrt – »Whiteout« nennt sich das Phänomen, und die Protagonistin erlebt das psychische Äquivalent dazu.
Die Charaktere
Wir haben es hier mit einer unzuverlässigen Erzählerin zu tun, die zunehmend den Kontakt zur Realität verliert. Sie ist eine Frau, die bis ins Kleinste akribisch plant und genau deshalb nur schwer mit Kontrollverlust umgehen kann. Paranoia kratzt an den Türen, Verzweiflung und Angst schleichen sich ein. Sie versucht, sich zu behaupten – gegen die durchaus gefährliche arktische Natur, gegen die eigenen Zweifel –, und ist dabei doch immer schwerer zu fassen. Ist sie sympathisch? Ist ihr Verhalten nachvollziehbar? Nein, nicht immer. Dies ist für mich auch der einzige Schwachpunkt des Romans, denn die Protagonistin entzieht sich jeglicher Identifikation.
Die anderen Charaktere sehen wir ausschließlich durch ihre voreingenommenen Augen. Ist ihr Ex-Mann wirklich so bedrohlich und gewalttätig, wie sie ihn wahrnimmt, oder sind das nur wahnhafte Vorstellungen? Hat ihr Geliebter überhaupt ein Interesse daran, mit ihr zusammenzuleben? Nimmt sie ihr Kind als irgendetwas anderes wahr als eine Verlängerung ihrer selbst? Sie alle sind nur Staffage in diesem Monodram.
Spannungsbogen
Von einem klassischen Spannungsaufbau ist hier nicht zu sprechen, aber die leise Dramatik, die Gøhril Gabrielsen aufbaut, entwickelt durchaus eine feine, subtile Sogwirkung. Diese wird im Laufe der Geschichte immer beklemmender, immer intensiver.
Die Menschen, die nachweislich vor etwa 140 Jahren am Handlungsort lebten, in einem Haus, das später abbrannte, werden in der Phantasie der Protagonistin immer lebendiger, bis sie schließlich präsenter und wahrhaftiger sind als die Menschen in ihrem Leben. Hier spielt der Roman mit den üblichen Versatzstücken aus klassischen Geistergeschichten: bedrohliche Geräusche; verschwundene und wieder auftauchende Gegenstände; eine Tür, die eigentlich verschlossen sein sollte, aber es nicht ist. Die Gratwanderung zwischen Realität und Wahn schraubt sich hoch bis zu einem Ende, das Leser:innen kompromisslos vor die Wahl stellt, was sie glauben wollen.
Das Thema ‘Mutterschaft als Aufgabe der weiblichen Selbstbestimmung’ klingt auf verschiedenen Handlungsebenen immer wieder an, und auch das ist auf leise Art spannend, weil es eine Vielzahl moralischer Fragestellungen aufwirft.
Schreibstil
Gøhril Gabrielsen schreibt in Worten, die sich so glasklar und kalt lesen wie das arktische Eis; emotionalen Überschwang oder echte Wärme sucht man vergebens. Aber an Atmosphäre mangelt es nicht, der Stil fügt sich nahtlos ein in den Handlungsort – da kann man das Eis geradezu knacken hören, wenn die Protagonistin an ihren inneren Dämonen Stück für Stück zerbricht. Es ist beeindruckend, wie die Autorin den Schauplatz nutzt, um widersprüchliche Themen und Eindrücke darzustellen: endlose Weite und verzweifelte Einsamkeit, ersehnte Geborgenheit und klaustrophobische Gefühle des Eingesperrtseins.
Fazit
Dies ist ein kurzes Buch der leisen Töne, und dennoch ein beeindruckendes psychologisches Drama.
Eine Wissenschaftlerin bezieht für einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt eine Hütte in der Arktis. Ihre kleine Tochter lässt sie beim Ex-Mann zurück; ihr Geliebter, der eigentlich nachkommen sollte, vertröstet sie mit Entschuldigungen, die ihre Rolle als Mutter noch dringlicher in Frage stellen. Umgeben von Eiseskälte und weißer Endlosigkeit ist sie gezwungen, sich mit ihren eigenen Dämonen auseinander zu setzen und zu warten… Zu warten… Derweil verliert sie immer mehr den Bezug zur Realität. Ist diese Einsamkeit nun Gefängnis oder kompromisslose Freiheit?
Über das Ende lässt sich sicher streiten, und auch die unnahbare Protagonistin macht es Leser:innen nicht leicht. Dennoch konnte mich der Roman mit seiner kristallklaren Sprache, seinen interessanten, ambivalenten Fragestellungen und seinem subtilen Spannungsaufbau überzeugen.
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