#Rezension Bov Bjerg: Serpentinen

Serpentinen

Ein Rezensionsexemplar des Buches wurde mir von Netgalley im Auftrag des Verlags zur Verfügung gestellt.

© Cover ‘Serpentinen’: Claassen-Verlag
© Bild Smartphone / Twitter-Symbol: Pixabay

Handlung

Der Ich-Erzähler fährt mit seinem kleinen Sohn in die Schwäbische Alb, wo er selbst aufgewachsen ist. Er will dem Jungen zeigen, wo seine Wurzeln liegen – doch ist dies keineswegs eine Geschichte voller warmherziger Erinnerungen.

“Wer zurückfährt, muss alle Kurven noch einmal nehmen.”

(aus dem Klappentext)

Denn die Familie wird seit Generationen geplagt von einem schwarzen Fluch: Depressionen und psychische Erkrankungen, die die Betroffenen letztendlich zum Äußersten führen. Die Erzählung verläuft stets auf zwei Bedeutungsebenen, denn wie der Junge die Reise erlebt und wie der Vater insgeheim mit seinen Dämonen kämpft, könnte konträrer kaum sein.

»Um was geht es? Um was geht es!«

Um was es geht, das ist ein Spiel zwischen Vater und Sohn. Es geht um die Serpentinen. Es geht um die Serpentinen. Es geht um die SER-PEN-TI-NEN. Es geht darum, sich in die Kurve zu legen. »Um was geht es?« Wieder und wieder verlangt der Junge eine Antwort, die letztlich ohne Bedeutung ist – ein Ritual, in dem es nur um die Verbindung geht, um das Gefühl der Kameradschaft.

Für ihn ist die Reise ein großes Abenteuer, ein spannender Roadtrip. Er freut sich über die Aufmerksamkeit des Vaters, reicht ihm Bierdosen ans Steuer. »Wir machen ganz schön viel zusammen« sagt er glücklich. Er ahnt nicht, dass die Mutter schon die Polizei gerufen hat. Dass der Vater ihm nachts das Kissen aufs Gesicht legt, wenn er schläft. Dass der versucht, sich zu wappnen für den erweiterten Suizid – oder dafür, eben doch weiterzuleben, leben zu lassen.

»Ich musste den Schwarzen Gott von ihm fernhalten, und ich wusste nicht wie.«

(Zitat)

»Um was geht es?«

Es geht um die Familiengeschichte, die Nazivergangenheit, die Vertreibung der sudetendeutschen Ahnen. Es geht um drei Generationen von Selbstmördern. Es geht um vaterlose Söhne, die zu ‘Scheißvätern’ werden, die den fatalen Zyklus fortführen. Die Rückblicke sind durchdrungen von familiärer und gesellschaftlicher Gewalt, Armut und Alkoholismus, Variationen der Ausgrenzung und Fremdheit.

Und immer wieder senkt sich ein grauer Schleier über die Psyche – seit drei Generationen der finale Vorhang für den jeweiligen Patriarchen. Auch der Protagonist leidet an lähmenden Depressionen, die ihn in äußerster Konsequenz hierher geführt haben: zu den Serpentinen, zu seiner Vergangenheit, vielleicht zu seinem Tod.

»Es war seltsam, dass es dafür einen Grund geben sollte. Als ob ein Suizid das Ergebnis einer logischen Operation wäre. Einer verliebte sich, einer nahm sich das Leben. So in etwa.«

(Zitat)

Das liest sich über lange Passagen wie ein dunkler Fiebertraum, aus dem es kein Erwachen gibt – das bedrückende Panorama einer Depression ohne Wiederkehr. Man steht am Scheideweg, der Leser wie der Protagonist, und hat doch das Gefühl, es könne nur in die eine unheilvolle Richtung gehen.

Die Vorbelastung ist in jedweder Hinsicht vernichtend. Der Erzähler kämpft gegen seine Depression an, lässt sich jedoch immer mehr von ihr auf Abwege leiten – sie verdreht seine Gedanken, lässt den möglichen Kindsmord wie eine logische Konsequenz der Liebe erscheinen.

Und dennoch: um was geht es?

Die Bedrückung, die ich beim Lesen empfand, blieb meist distanziert. Die Geschehnisse erschienen mir in vielen Passagen geradezu exemplarisch – abgenutzte Vorzeigebilder psychischer und familiärer Verstrickungen, das A bis Z der Dysfunktion. Die Charaktere wandern durch diese Szenen wie Statisten, losgelöst von aller Konsequenz.

Selbst wenn mein Verstand urteilte “Das ist schrecklich!”, hatte ich noch das Gefühl, dass die Erzählung an der Oberfläche trieb und ich die wahre Hölle nur erahnen konnte, weit unten am tiefen Grund. Mir fehlte sozusagen der Sog, der mich nach unten gezogen hätte, damit ich das Ertrinken (üb)erleben und begreifen kann.

Dabei kann der Schreibstil durchaus Atmosphäre aufbauen und hat großartige Momente, durch deren Lupe auf einmal alles glasklar erscheint – nur sind diese in meinen Augen zu rar gesät. Vieles ist zu nüchtern, zu verkopft, zu konstruiert.

Einer dieser glasklaren Momente:

»Es stimmte nicht, dass mein Vater nicht leben wollte, weil ich nicht genügte. In Wirklichkeit war es viel leichter. WIE ich war, war für ihn ohne Bedeutung. Das war meine Freiheit. In Wirklichkeit war es viel schwerer. Bereits DASS es mich gab, war für ihn ohne Bedeutung. Das war mein Schmerz.«

(Zitat)

Im Endeffekt verharrt der Erzähler in der Opferrolle.

Er zählt all das Schreckliche auf, das ihm und anderen geschehen ist, spielt es immer wieder durch. Ihm ist bewusst, dass er aufgrund seiner Depression in Gefahr steht, sich und/oder seinem Sohn etwas anzutun. Aber er macht das mit sich selbst aus, er sucht keine Hilfe – und er sieht nicht, wie unverantwortlich das ist.

Auf jede Passage, in der sich emotionaler Fortschritt erahnen lässt, folgen mehrere, in denen er den Fortschritt zunichte macht und sich nur umso sturer an sein Leid klammert. Als Leserin hörte ich irgendwann auf, mitzuleiden, denn ich sah darin keinen Sinn mehr. Um was geht es? Um was geht es!

Fazit

Sorgenkind

“Serpentinen” beschreibt das düstere Psychogramm einer Familie, die seit Generationen gefangen ist in einem Kreislauf von Schuld und Gewalt. Der Protagonist, dessen Urgroßvater, Großvater und Vater alle durch Suizid gestorben sind, begibt sich mit seinem kleinen Sohn auf eine Reise an die Plätze seiner Kindheit – im Hinterkopf den Gedanken, der Zyklus ließe sich möglicherweise endlich durchbrechen, indem Vater UND Sohn sterben.

Die Grundidee ist aus psychologischer Sicht gesehen ohne Zweifel interessant. Die Familiengeschichte wartet mit einer Vielzahl von Themen auf (möglicherweise zu viele!), die auch für sich genommen alle schon genug Potential für einen Roman böten, und der Schreibstil hat seinen ganz eigenen, oft großartigen Klang.

Dennoch fehlt mir da etwas – der letzte Schritt, der die Distanz zum Leser geschlossen hätte, vielleicht. Ich nahm den Schmerz und die Tragik zur Kenntnis, hatte indes das Gefühl, als ränne mir die wahre Bedeutung durch die Finger. Der Protagonist macht sein Leid zum Lebensinhalt, und mir bleibt letztendlich nur die Erinnerung an ein ungewöhnliches Gedankenspiel.

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TitelSerpentinen
Originaltitel
Autor(in)Bov Bjerg
Übersetzer(in)
Verlag*Claassen
ISBN / ASIN9783546100038 (Hardcover)
9783843722872 (eBook)
Seitenzahl*272
Erschienen im*Januar 2020
GenreGegenwartsliteratur
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
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