#Lesetagebuch KW45 2022

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Andreas Stichmann: Eine Liebe in Pjöngjang

Andreas Stichmann: Eine Liebe in Pjöngjang

Verlag: Rowohlt

An der Spitze einer Delegation junger Kulturschaffender reist Claudia Aebischer ein letztes Mal nach Pjöngjang: zur feierlichen Eröffnung der dortigen Deutschen Bibliothek. Starke Empfindungen sind ihr eigentlich fremd. Doch schon kurz hinter der chinesischen Grenze sieht sie sich mit einer Erscheinung konfrontiert, die eine alte Sehnsucht in ihr weckt. Eine Begegnung, die alles neu und anders macht – gibt es das? Das Phänomen hat, wie Claudia erfährt, einen Namen. Sunmi ist Germanistin, Dolmetscherin und Agentin der DVRK.

(Klappentext)

Stichmann erzeugt in prägnanten Worten ein Bild von der tiefgehenden Fremdheit, mit der Nordkorea auf westliche Besucher wirkt. Das Pjöngjang des Buches ist eine Farce, ein Schauspiel, und jede:r weiß es; alle Beteiligte sind gefangen in ihrer jeweiligen Rolle. Alle lächeln, lächeln, lächeln, aber deinen Pass musst du abgeben, dein Handy hat keinen Empfang. Alle sind so herzlich, so hilfsbereit, aber sag bloß nichts, was nicht ins Skript passt.

Hier liegt eine große Stärke des Romans, wohl auch, weil dieser Aspekt der Geschichte getragen wird von den tatsächlichen Erlebnissen des Autors. Abgesehen davon lässt der Roman vieles offen, und am Ende steht die Frage im Raum: Wie echt waren die Gefühle zwischen den beiden ungleichen Frauen, Claudia und Sumni? Denn das ist keineswegs eindeutig zu bestimmen. Und in dieser Offenheit des Romans liegt seine zweite große Stärke: Stichmann verzichtet auf verkitschte Eindeutigkeiten.

Ob der Frage, wie glaubhaft Sumni als Charakter ist, haderte ich jedoch immer wieder mit mir. Sie hat ohne Frage eine komplexe Hintergrundgeschichte, dennoch wirkte sie auf mich oft wie ein Platzhalter. Sie ist das, was wir Deutschen aus einer unvermeidlichen Distanz heraus über Nordkorea wissen können.

[Link] Die ganze Rezension zu Andreas Stichmann: Eine Liebe in Pjöngjang

Oyinkan Braithwaite: Meine Schwester, die Serienmörderin

Oyinkan Braithwaite: My Sister, the Serial Killer

Titel der dtsch. Übersetzung: Meine Schwester, die Serienmörderin
Übersetzung von: Yasemin Dinçer
Verlag der dtsch. Ausgabe: Aufbau Blumenbar
Verlag des Originals: Doubleday

Ayoola und Korede sind Schwestern wie Tag und Nacht:

Ayoola ist wunderschön und charmant, das Lieblingskind ihrer Eltern und der Schwarm aller Männer. Korede dagegen ist unscheinbar und von harschem Gemüt, arbeitet als Krankenschwester – und muss hinter ihrer Schwester herräumen, wenn die mal wieder einen ihrer Liebhaber umgebracht hat. Als wäre das noch nicht schlimm genug, verliebt sich auch noch der junge Arzt Tade, nach dem Korede sich heimlich verzehrt, in die männermordende Ayoola …

Das Buch ist spannend, unterhaltsam und regt zum Nachdenken an, insofern gefiel es mir für einen Großteil der Kapitel sehr gut. Gegen Ende hätte ich mir allerdings gewünscht, die beiden Schwestern würden mehr inneres Wachstum erfahren, ihre unterschwellig vorhandenen Dämonen endlich mal aussprechen und ans Licht holen … Aber beide bleiben im Grunde genau die Menschen, die sie auf der allerersten Seite waren.

Im Endeffekt kam es mir dadurch so vor, als würde das Buch sein enormes Potential nicht vollends ausreizen, als sei es nicht vollkommen ‘durcherzählt’. Die Autorin schafft einen reichen literarischen Nährboden für die angesprochenen Themen, die Charaktere hingegen bleiben davon nahezu unberührt – die Dinge sind, wie sie sind, niemand scheint ernsthaft etwas daran ändern zu wollen.

[Link] Die ganze Rezension Oyinkan Braithwaite: My Sister, the Serial Killer

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(Rezension folgt noch)

Buchcover Dolores Redondo The North Face of the Heart

Dolores Redondo: The North Face of the Heart

Titel des spanischen Originals: La cara norte del corazón
Titel der dtsch. Übersetzung: Todesspiel. Die Nordseite des Herzens

Übersetzung der deutschen Ausgabe: Anja Rüdiger
Übersetzung der englischen Ausgabe: Michael Meigs

Verlag der dtsch. Ausgabe: btb
Verlag der engl. Ausgabe: Amazon Crossing
Verlag des Originals: Ediciones Destino

Wenn die Natur tobt und die Menschen am schutzlosesten sind, schlägt er erbarmungslos zu: Er bringt ihnen den Tod. Er ist als »der Komponist« bekannt. Er inszeniert seine Taten beinahe liturgisch und richtet die Leichen stets nach Norden aus, daneben drapiert er eine Geige. Am verheißungsvollen Vorabend des schlimmsten Hurrikans der Geschichte von New Orleans befindet sich die junge Kommissarin Amaia Salazar mit ihrem Ermittlungsteam in der Stadt, um dem Komponisten endlich auf die Spur zu kommen. Doch dann erreicht sie ein Anruf aus Spanien, der sie mit den Geistern ihrer Kindheit und tiefsitzenden Ängsten konfrontiert. Die Situation spitzt sich zu: Der Wind steigt auf, die Straßen leeren sich, Häuser werden verbarrikadiert. Kommt die junge Ermittlerin dem gnadenlosen Mörder rechtzeitig auf die Spur?

(Klappentext)

Die Originalausgabe des Buches ist spanisch; ich habe zunächst ein paar Kapitel der deutschen und der englischen Übersetzung angelesen, um mich dann für die zu entscheiden, die mir mehr zusagte. Der Schreibstil der deutschen Übersetzung erschien mir flach und uninspiriert, die englische Fassung wirkte indes ganz anders auf mich – sehr intelligent geschrieben, mit ungemein dichter Atmosphäre. Wie die Autorin den Sturm, die Flut, die Stadt im Griff der Katastrophe zum Leben erweckt, das ist herausragend gelungen. Das ist nicht weniger tragisch als die eigentlichen Morde, und da tun sich menschliche Abgründe auf, die nicht weniger tief sind.

Was die Meinungen spalten dürfte: Im Zentrum der Geschichte stehen nicht nur wissenschaftlich erklärbare Phänomene; es gibt auch eine spirituelle Ebene, die Phänomene und Wesen aus der Mythologie aufgreift. Für einen Großteil des Buches lässt sich jedes Ereignis so oder so betrachten, wissenschaftlich oder mythologisch, das wird gegen Ende meines Erachtens allerdings zunichte gemacht.

Aber ich konnte es verschmerzen, denn davon abgesehen ist das Buch sehr gut geschrieben, mit einem komplex konstruierten Fall, der sehr schlüssig in die Extremsituation nach Hurrikan Katrina eingebunden ist.

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Buchcover Ian McEwan Lessons, Bild eines klavierspielenden Jungen in kräftigen, nicht realistischen Farben

Ian McEwan: Lessons

Titel der dtsch. Übersetzung: Lektionen
Übersetzung von: Bernhard Robben
Verlag der dtsch. Ausgabe: Diogenes
Verlag des Originals: Jonathan Cape (Penguin)

Roland Baines ist noch ein Kind, als er 1959 im Internat der Person begegnet, die sein Leben aus der Bahn werfen wird: der Klavierlehrerin Miriam Cornell. Roland ist junger Vater, als seine deutsche Frau Alissa ihn und das vier Monate alte Baby verlässt. Es ist das Jahr 1986. Während die Welt sich wegen Tschernobyl sorgt, beginnt Roland, nach Antworten zu suchen, zu seiner Herkunft, seinem rastlosen Leben und all dem, was Alissa von ihm fortgetrieben hat.

(Klappentext)

Bisher finde ich das Buch sehr gut geschrieben; der Autor bettet die Romanhandlung differenziert und überzeugend in die Zeitgeschichte ein. Die Geschichte folgt Protagonist Roland über Jahrzehnte hinweg und zeigt eindringlich, wie Missbrauch ein ganzes Leben aus der Bahn werfen kann.

Dabei fand ich besonders wichtig, dass hier in der Klavierlehrerin Rolands mal eine Frau gezeigt wird, die sexuell übergriffig wird – das wird in der Literatur seltener aufgearbeitet als Missbrauch durch männliche Täter. In den letzten Jahren habe ich hingegen leider erstaunlich oft von ganz realen Lehrerinnen gehört, die “Affären” mit ihren minderjährigen Schülern eingingen und nichts Falsches darin sahen. Oft wird dann sogar sowas gesagt wie: Der Glückspilz, erst 14 und lernt Sex direkt mit so einer attraktiven Frau kennen! Nein. Nein, nein, nein. Ich sage dann immer: Dreh das mal um. Stelle dir vor, es sei ein 14-jähriges Mädchen, die von einem Lehrer verführt wird. Das wird erstaunlicher Weise dann immer direkt als Missbrauch erkannt.

Celeste Ng Unsre verschwundenen Herzen Abstraktes Buchcover in Blau- und Grautönen

Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen

Titel der Originalausgabe: Our Missing Hearts
Übersetzung von: Brigitte Jakobeit
Verlag der dtsch. Ausgabe: dtv
Verlag des Originals: Penguin Press

Der zwölfjährige Bird lebt mit seinem Vater in Harvard. Seit einem Jahrzehnt wird ihr Leben von Gesetzen bestimmt, die nach Jahren der wirtschaftlichen Instabilität und Gewalt die »amerikanische Kultur« bewahren sollen. Vor allem asiatisch aussehende Menschen werden diskriminiert, ihre Kinder zur Adoption freigegeben. Als Bird einen Brief von seiner Mutter erhält, macht er sich auf die Suche. Er muss verstehen, warum sie ihn verlassen hat. Seine Reise führt ihn zu den Geschichten seiner Kindheit, in Büchereien, die der Hort des Widerstands sind, und zu seiner Mutter. Die Hoffnung auf ein besseres Leben scheint möglich. Eine genauso spannende wie berührende Geschichte über die Liebe in einer von Angst zerfressenen Welt.

(Klappentext)

Celeste Ng erzählt diese Geschichte in einer Sprache, die oft märchenhaft wird, wenn der 12-jährige Bird gerade der Perspektivcharakter ist. Bird lebt in einer Gesellschaft, die für Menschen wie ihn, Menschen mit offensichtlich asiatischen Wurzeln, sehr gefährlich werden kann. Sein Vater versucht, ihn abzuschirmen, indem er ihm beibringt, in der Öffentlichkeit den Kopf zu senken, nie aufzufallen und sich jederzeit penibel an die Regeln von PACT zu halten – den Gesetzen, die Amerika vor ‘schädlichen asiatischen Einflüssen’ schützen sollen. Doch inzwischen ist Bird alt genug, um zu erkennen, was vor sich geht. Und alt genug, um sich zu fragen, wo seine Mutter ist, von der er die asiatischen Gesichtszüge geerbt hat. Seine Mutter, deren Gedichte vom Widerstand verwendet werden.

Bird packt seine Erlebnisse und seine Angst in märchenhafte Bilder und Vorstellungen. Doch je mehr er sich löst aus dem Regelwerk seines Vaters, das ihn ja nur schützen soll, dabei aber erstickend ist, desto öfter zeigen seine Erlebnisse die ganz reale Unterdrückung und Gewalt. So lächelt er einmal einer asiatisch aussehenden Frau auf der Straße zu, und nur Sekunden später wird sie zu Boden geworfen und brutal zusammengeschlagen – und niemand greift ein, niemand hilft. Diese Mischung aus der märchenhaften Sicht eines kleinen Jungen und den bedrückenden Bildern einer allzu plausiblen dystopischen Welt vermittelt die Botschaft des Buches meines Erachtens sehr nachdrücklich.

Und das alles ist leider vollkommen plausibel. Im Zeitalter von Corona kommt es vermehrt zu anti-asiatische Gewalt, was zum Beispiel von der Rhetorik Donald Trumps (“china virus”, “chinese plague”) noch angeheizt wurde. Ohnehin leiht sich PACT in diesem Roman oft dieselbe Art von Rhetorik aus, die Sprache von ‘make America great again’.

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Pastel Bird

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