[ Deutscher Buchpreis 2021 ] Mikka liest den Buchpreis

Deutscher Buchpreis 2021

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Und täglich grüßt der Bücherwurm …

Inzwischen ist es eine geliebte Gewohnheit: Jedes Jahr warte ich gespannt auf die Verkündung der Longlist des Deutschen Buchpreises, stürze mich dann direkt auf meine Favoriten und fange an zu lesen. Fünf meiner Favoriten standen später tatsächlich auf der Shortlist (zwei davon zu dem Zeitpunkt bereits gelesen), daher beschloss ich, einfach die ganze Shortlist zu lesen – was ich dann auch tat.

Leider habe ich es bei den letzten beiden nicht mehr geschafft, auch vor der Verleihung noch Rezensionen zu schreiben, die werde ich später nachreichen.

Nicht auf die Shortlist schaffte es zu meinem Bedauern dieser Favorit:

Drei Kameradinnen

Shida Bazyar: Drei Kameradinnen

Überall die Blicke, die Sprüche, der stete Zwang, sich die eigene Existenzberechtigung immer und immer wieder zu verdienen, und das Gaslighting: das bildest du dir nur ein, übertreibst du nicht, Deutschland hat kein Rassismus-Problem. Die Gratwanderung: wem kann ich trauen, wer meint es ehrlich mit mir? Will er oder sie mich wirklich unterstützen, oder benutzt si:er mich nur, um den eigenen “White Saviour”-Komplex zu füttern, sich als guter Mensch zu fühlen?

Das frisst Energie, Lebensfreude und Chancen. Die drei Kameradinnen gehen sehr unterschiedlich damit um. Hani ist in einem Grad angepasst und bemüht, der beim Lesen schmerzt; alles, was sie nicht positiv sehen kann, blendet sie krampfhaft aus. Kasih, die Erzählerin, ist nur schwer greifbar: sie ist eine unzuverlässige Erzählerin, die ihre Gefühle und ihre Erinnerungen ganz bewusst relativiert, manchmal sogar negiert oder auf den Kopf stellt. In Saya brodelt bei jeder Mikroaggression, bei jedem beiläufigen Alltagsrassismus, die Wut. Und der stete Tropfen höhlt den Stein …

Aber di:er Leser:in fragt sich: hat Saya wirklich getan, was die einschlägigen Skandalblättern schäumen lässt vor selbstgerechter Wut, was sie schrei(b)en lässt, man habe schon zu lange “solche Menschen” ins Land gelassen? Ist sie eine Attentäterin, eine Brandstifterin?

Diese Shortlist-Titel habe ich gelesen und rezensiert:

Yulia Marfutova Der Himmel vor hundert Jahren

Yulia Marfutova: Der Himmel vor hundert Jahren

In einem kleinen russischen Dorf, irgendwann ums Jahr 1918 herum, scheinen Zeit und Welt stillzustehen. Weit weg sind der Bürgerkrieg, die politischen Umwälzungen, die Machtkämpfe … Im Kleinen lassen sich im Dorf indes ähnliche Strukturen beobachten, sodass die Geschehnisse wirken wie eine Parabel, die Bewohner wie Charaktere in einem satirischen Puppenspiel.

Das Buch habe ich quasi in einem Rutsch weggelesen, ich fand es unwiderstehlich. Der Schreibstil ist außergewöhnlich, entwickelt über lange Passagen einen geradezu hypnotischen Sog. Die Autorin setzt gekonnt Stilmittel ein, die leicht zum Überdruss führen könnten (z. B. häufige Wiederholungen), bei ihr aber perfekt ein lebhaftes Bild und eine dichte Atmosphäre erzeugen. Ein leichtfüßiger Humor und schrullige Charaktere tun ihr Übriges für eine sehr unterhaltsame Lektüre, die dennoch nicht trivial ist.

#Rezension Yulia Marfutova: Der Himmel vor hundert Jahren

Mithu Sanyal: Identitti

Mithu M. Sanyal: Identitti

Nivedita hat eine deutsche Mutter und einen indischen Vater und fühlte sich schon ihr ganzes Leben lang nirgendwo zugehörig. Als Kind wurde sie von anderen, komplett indischen Kindern als Kokosnuss beschimpft – außen braun, innen weiß. Sie fühlte sich unsichtbar, übergangen, wertlos.

Doch dann belegt sie an der Universität „Postkoloniale Studien“ und begegnet Dozentin Saraswati, die als Erstes mal alle weißen Student:innen aus ihren Vorlesungen rauswirft. Es eröffnet sich Niv eine ganz neue Welt, ein ganz neues Leben, ein ganz neues Ich, das endlich gehört wird.

Dann wird Saraswati entlarvt: Sie ist gar keine POC, sondern eine weiße Deutsche, die sich Haut und Haare färbt. Echte POC sind verständlicherweise entrüstet, die Öffentlichkeit wetzt die Messer, die AfD und die BILD-Zeitung überbieten sich mit absurden Schlagzeilen. Und Niv verliert den Boden unter den Füßen, weiß nicht, was sie denken und fühlen soll. Wenn Saraswati nicht echt ist, ist dann auch nicht echt, was Nivedita von ihr gelernt und wie sie sich entwickelt hat?

#Rezension Mithu M. Sanyal: Identitti

Thomas Kunst: Zandschower Klinken

Thomas Kunst: Zandschower Klinken

Das kleine Dorf Zandschow liegt in vielerlei Hinsicht mitten im Nirgendwo: hier gibt es keine Arbeitsstellen, keine Perspektiven, kein Garnichts. Aber was die Bewohner besitzen, ist Fantasie und eine wilde Entschlossenheit, das Leben mit ihren kargen Mitteln zu feiern, auf eine skurril-aberwitzige Art und Weise. Und so wird Zandschow zu Sansibar, der Löschteich zum karibischen Meer.

Thomas Kunst verpackt das in eine Sprache, die Leser:innen einiges abverlangt, da schwirrt dir beim Lesen nur so der Kopf. Das vorherrschende Stilelement, gnadenlos ausgereizt, besteht aus Wiederholungen ganzer Passagen. Wieder und wieder und wieder liest du dieselben Sätze, dieselben Abschnitte, bis sie irgendwann an dir vorüberziehen wie im Rausch.

Und ja, da steckt durchaus auch Kritik drin: gesellschaftlich, sozial, politisch. Bei allem Chaos, aller sprachlichen Anarchie, ist das Buch doch nicht beliebig, sondern durchaus bewusst komponiert. Ich bin hin- und hergerissen, aber eines ist sicher: Das ist wirklich mal was ganz Neues und Gewagtes, das ist eine Sprache zwischen Poesie und Prosa, die dich provokant aus der Wohlfühlzone schubst.

Meines Erachtens verdient der Titel alleine für Originalität und verbale Experimentierfreude schon die Nominierung für den Deutschen Buchpreis. Ist er mein Favorit? Zugegeben, das nicht.

#Rezension Thomas Kunst: Zandschower Klinken

Norbert Gstrein: Der zweite Jakob

Norbert Gstrein: Der zweite Jakob

Jakob, ein bekannter Schauspieler, wird von seiner Tochter gefragt, was das Schlimmste sei, das er je getan habe. Er kennt sie zu gut, um zu versuchen, sie mit Ausflüchten abzuspeisen, obwohl er sich davor fürchtet, diese Erinnerungen wieder abzurufen und laut auszusprechen. Doch er wagt den Sprung, lässt kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag die Abgründe und Schattenwege seines Lebens im Geiste auferstehen, um vor seiner Tochter und sich selber seine Schuld anzuerkennen.

Der Autor erzählt mit dezenter Zurückhaltung, dabei aber nicht belanglos oder weniger ausdrucksstark. Jaokobs Geschichte ist komplex und lässt viel Interpretationsspielraum offen, doch klar wird immer wieder: sein Leben war eines voller Entscheidungen, die die Weichen unwiderruflich neu justieren – wenn auch manchmal nur die Weichen des eigenen Ethos. Die Leserin fragt sich: wer ist Jakob im Kern seines Wesens wirklich?

Die anderen Charaktere werden ungeschönt geschildert, dabei aber nicht überdramatisiert. Oft deutet Gstrein Wesenszüge nur an oder lässt sie indirekt, im Scherenschnitt zu Jakobs Eigenschaften gesehen, einfließen. Für mich ergaben dies in Verbindung mit dem ruhigen, klaren Schreibstil ein rundes, überzeugendes Bild.

#Rezension Norbert Gstrein: Der zweite Jakob

Kurz-Fazits:

Monika Helfer: VatiAntje Rávik Strubel: Blaue Frau

Antje Rávik Strubel: Blaue Frau

Meine Meinung kurz und knapp: ein Roman, der beim Lesen Wunden aufkratzt, Dunkelstellen bloßlegt, den Leser:innen nicht erlaubt, die Augen zu verschließen – weder vor Ausbeutung, Sexismus und sexueller Gewalt, noch vor den Machtstrukturen, die diese ermöglichen oder zumindest nicht verhindern. Die Protagonistin muss erkennen, dass ihr erlebtes Unrecht und erlebter Schmerz aberkannt werden, und das nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen, die gelernt haben, in einem von Männern geprägtem System erfolgreich zu sein. Die Autorin lässt all das in einer Sprache voller Symbolik anklingen – mal leise und unterschwellig, mal atemberaubend ausdrucksstark.

Monika Helfer: Vati

Meine Meinung und knapp: Monika Helfer spürt dem Leben ihres Vaters nach, sucht die Puzzleteile in ihren eigenen Erinnerungen und den Erinnerungen von Verwandten. Viel Tragisches ist geschehen – viel, was sich so absurd liest, dass es beinahe komisch wirkt. Die Leben vieler Menschen dieser Familie wurden auf vielfältige Weise zersplittert, entwurzelt, sei es durch Krieg, schwere Krankheit oder Depression. Dieses Buch muss ich noch ein wenig sacken lassen.

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