#Rezension Yulia Marfutova: Der Himmel vor hundert Jahren

Yulia Marfutova: Der Himmel vor hundert Jahren

© Cover ‘Der Himmel vor hundert Jahren’: Rowohlt-Verlag
© Bild eBook-Reader: Pixabay

Röhrchen und Flussgeister

Rund ums Jahr 1918: in einem kleinen russischen Dorf haben die Menschen vom Roten Oktober und dem wütenden Bürgerkrieg bisher gar nichts gehört; in diese abgeschiedene Gegend kommen nur selten Nachrichten, geschweige denn Reisende. Hier gibt es keine jungen Männer mehr, die eingezogen werden könnten – die meisten sind in einem der letzten Kriege gefallen oder nur versehrt zurückgekehrt. Spielt da für die Dörfler noch eine Rolle, was irgendwo in einem ganz anderen Winkel des untergehenden Zarenreiches geschieht?

Viel wichtiger sind die dorfinternen Konflikte: Der Dorfälteste Ilja sieht sich als Mensch des Fortschritts, kann er doch mit Hilfe eines Barometers (Inbegriff der Moderne!) das Wetter recht genau vorhersagen. Der alte Pjotr hält es lieber mit den Traditionen und dem Volksglauben an die Flussgeister. Beide beäugen sich gegenseitig mit Zorn und Verachtung, beide haben ihre Anhänger. Besonders der “Iljanismus”, der Wunderglaube an das “Röhrchen” nimmt fast schon sektenartige Ausmaße an.

Dann fällt Iljas Frau ein Messer runter – ein Omen. Und wirklich kommt alsbald ein Fremder ins Dorf, ein junger Mann. Barfuß, in eine verdreckte Offiziersuniform gekleidet, wird er zum Mittelpunkt des dörflichen Klatsches, zum Sinnbild diverser nebulöser Hoffnungen und Ängste. Wo kommt er her, was will er hier – und will er etwa bleiben?

Ein Roman mit gelungener Balance

Das Buch habe ich quasi in einem Rutsch weggelesen, ich fand es unwiderstehlich. Der Schreibstil ist außergewöhnlich, entwickelt über lange Passagen einen geradezu hypnotischen Sog. Die Autorin setzt gekonnt Stilmittel ein, die leicht zum Überdruss führen könnten (z.B. häufige Wiederholungen), bei ihr aber perfekt ein lebhaftes Bild und eine dichte Atmosphäre erzeugen. Ein leichtfüßiger Humor und schrullige Charaktere tun ihr Übriges für eine sehr unterhaltsame Lektüre, die dennoch nicht trivial ist.

“Andererseits und wiederum und demgegenüber und bei genauer Betrachtung hängt natürlich alles mit allem zusammen, die Wiedergaben mit den Ideen, die Ideen mit dem Zaren und der Zar mit den Ikonen und die Ikonen wiederum und auch und ebenso und überhaupt. Da kann einem leicht schwindelig werden vor so vielen kosmischen Zusammenhängen.”

Historische Ereignisse werden im Buch nicht exakt benannt und datiert. Im Dorf sind aber Strukturen erkennbar, die sich im Kleinen lesen wie exakt die gleichen Auswüchse der menschlichen Natur, die im Großen zu besagten Ereignissen geführt haben. Da sind der bedingungslose Glaube an Autoritäten oder die Auflehnung dagegen, da sind Tradition oder Fortschritt, Personenkult oder freigeistiges Denken, Neid und Gier, Angst und Wahn. Leise und laute Stimmen verweben sich in vielfältigem Chorgesang
zum charmant-skurillen Portrait eines Dorfes, das in all seinen Eigenheiten eine gewisse Allgemeingültigkeit erhält.

“Und dann? Was passiert dann? Und danach? Und dann nach dem Danach? Und danndanndann? Immer kommt schließlich ein Dann, immer folgt ein Wetter dem nächsten, eine Windrichtung auf die andere, gibt ein Wort das nächste. Nur das Dann, das jetzt kommt, das hat man so nicht erwartet.”

Annuschka, ein Mädchen, das an der Schwelle zur Erwachsenenwelt steht, sieht das alles mit scharfem Blick quasi unparteiisch von außen und erlaubt dies daher auch den Leser:innen. Sie ist die Zukunft, die dem Roman eine hoffnungsvolle Note verleiht, denn in der Zukunft scheint auch hier vieles noch möglich.

Fazit

Lieblingsbuch

In einem kleinen russischen Dorf, irgendwann ums Jahr 1918 herum, scheinen Zeit und Welt stillzustehen. Weit weg sind der Bürgerkrieg, die politischen Umwälzungen, die Machtkämpfe… Im Kleinen lassen sich im Dorf indes ähnliche Strukturen beobachten, so dass die Geschehnisse wirken wie eine Parabel, die Bewohner wie Charaktere in einem satirischen Puppenspiel.

Yulia Marfutova ist mit “Der Himmel vor hundert Jahren” ein ganz wunderbares Debüt gelungen, das sich für mich geradezu von selbst sehr vergnügsam herunterlas, mit kostbarem Humor, aber dennoch weder platt noch abgedroschen daherkommt.

Rezensionen zu diesem Buch bei anderen Blogs

Poesierausch
patrick1166l
norma.aubergine
faedherike
martinpuchinger
lesebegierig
imka_wtr

Empfehlungen aus dem gleichen Genre

Sharon Dodua Otoo: Adas Raum
Saša Filipenko: Der ehemalige Sohn
Florian Knöppler: Kronsnest

TitelDer Himmel vor hundert Jahren
Originaltitel
Autor(in)Yulia Marfutova
Übersetzer(in)
Verlag*Rowohlt
ISBN / ASIN978-3-498-00189-6 (Hardcover)
978-3-644-00704-8 (eBook)
Seitenzahl*192
Erschienen im*März 2021
Genre*Gegenwartsliteratur
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
Die folgenden Links kennzeichne ich gemäß § 2 Nr. 5 TMG als Werbung :

Das Buch auf der Seite des Verlags
Das eBook auf der Seite des Verlags

signature
RSS Feed buecher InstagramLovelybooks ReadO Was Liest Du
RSS Feed / buecher.de / Instagram
Lovelybooks / Was Liest Du?
Read-O: @mikka.liest
(Leider musste ich die Kommentarfunktion auf WordPress
wegen massivem Spam und Botattacken ausstellen!)