#Rezension Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde

Das Verschwinden der Erde

© Cover ‘Das Verschwinden der Erde’: dtv
© Bild Smartphone: Pixabay

Handlung

“An einem Sommertag an der Küste Kamtschatkas verschwinden die russischen Schwestern Sofija und Aljona. Das Verbrechen erinnert an einen Vorfall nur Monate zuvor in der indigenen Bevölkerung. Wie eine düstere Wolke hängt der ungelöste Fall fortan über Kamtschatka und beeinflusst das Leben ganz unterschiedlicher Frauen in einer gespaltenen, männerdominierten Gesellschaft. Während das Netz zwischen den Einzelschicksalen dichter wird, hält die Suche nach den Mädchen die ganze Stadt in Aufruhr.”

(Klappentext)

Ein Kaleidoskop der weiblichen Realität

Hier handelt es sich um einen Episodenroman. Das Verschwinden von Sofija und Aljona wird zum verbindenden Element für kurze – wenn auch glasklare und intensive! – Einblicke in die Leben verschiedener Mädchen und Frauen. Jede hat davon gehört, hat ihre eigene Meinung dazu oder ist sogar irgendwie in die Geschichte involviert.

Doch auch wenn die Entführung stets unterschwellig präsent ist in den Gedanken der verschiedenen Protagonistinnen, geht es meines Erachtens vor allem um die verschiedenen Formen von Gewalt, mit denen sich Frauen konfrontiert sehen – auch wenn es sich dabei vielleicht ‘nur’ um Diskrimierung, Sexismus, Erniedrigung, Unterdrückung oder Ausgrenzung handelt oder sie sich dessen selber nicht bewusst sind.

Kein Thriller, aber dennoch spannend

Lange wird nicht klar, was mit den verschwundenen Kindern geschehen ist, und du kannst nur bangen und hoffen, dass sie nicht zum mahnenden Beispiel für die extremste (möglicherweise sexuelle) Form von Gewalt geworden sind. Aber oft habe ich sie geradezu aus den Augen verloren, weil ich in jeder Episode vor allem gefesselt war vom Leben der Frauen, die gerade im Zentrum standen.

Wenn der Spannungsbogen doch mal durchhing, fand ich trotzdem immer etwas, das ich für mich aus der Erzählung herausziehen konnte. Denn das Leben auf der sibirischen Halbinsel Kamtschatka war für mich tatsächlich komplettes Neuland!

Unfreiheit aus verschiedenen Blickwinkeln

Manche der Charaktere kommen in verschiedenen Episoden vor. Oft spielt die Frau, durch deren Augen wir eben noch geblickt haben, in einem späteren Kapitel nur noch eine Nebenrolle, und gerade dadurch sehen Leser:innen, wie Frauen verschiedene Rollen in diesem gesellschaftlichen Spiel einnehmen können.⠀

Ganz viel passiert hier nur unterschwellig oder wird vom Umfeld der Frauen normalisiert, obwohl es nicht normal sein sollte. Erzwungene Anpassung an unfaire gesellschaftliche Erwartungen. Beiläufiger Rassismus. Deckelung vermeintlich ‘niederer’ Gesellschaftsschichten durch hochmütiges Überlegenheitsdenken. Dabei sind es hier durchaus auch Frauen, die anderen Frauen diese Strukturen der Unterdrückung aufzwingen – meist vertretbar gemacht durch unterbewusstes Othering: diese Frau gehört nicht zu uns, sie ist anders, das ist nicht das Gleiche.

Beziehungen sind in diesem Buch oft Fluchtmöglichkeit oder Lebensversicherung, weil die Frau für sich keine andere Wahl sieht, Schwangerschaften entweder Fessel oder Pfand. Das ideale Leben der idealen Frau wird zum Kerker.

Vielschichtige Ausgrenzung

Ein wichtiges Thema ist die gesellschaftliche Akzeptanz oder Ablehnung indigener Menschen in Kamtschatka. Natürlich liegt auch hier das Augenmerk besonders auf den indigenen Frauen, die in einer ohnehin männerdominierten Welt die doppelte Bürde tragen. Ich war bestürzt, wie sehr sie von manchen Kreisen geradezu entmenschlicht werden.

Auch Fremdarbeiter werden in einer Episode thematisiert, und da offenbaren sich direkt zwei Seiten des Rassismus. Während einige Menschen sie als gefährliche Wilde ablehnen, erotisiert die Frau, die in diesem Abschnitt die Hauptrolle spielt, sie mit genau den gleichen Vorurteilen – und sieht sie dadurch weniger als Menschen als als reine Sexualobjekte.

Ich war erschrocken, wie groß die Gefahr für homosexuelle Menschen in Kamtschatka anscheinend immer noch ist. In einer Episode, in der eine junge Frau mit ihrer Sexualität hadert, wird ersichtlich, dass Homosexualität nicht nur verboten ist, sondern dass es durchaus oft vorkommt, dass eine homosexuelle Person getötet wird.

Der Schreibstil

Julia Phillips schreibt packend und atmosphärisch dicht, mit eindringlichen Bildern, und gerade deswegen musste ich manchmal eine Pause machen und durchatmen. Allzu hart und grau sind die Schicksale vieler dieser Frauen, doch zweifele ich nicht daran, dass das weibliche Leben in Kamtschatka wirklich so ist.

Fazit:

Schöner Wegbegleiter

An der Küste Kamtschatkas werden zwei kleine Mädchen entführt. Das Ereignis zieht sich als verbindendes Element durch diesen Episodenroman, in dem die Handlung von einer weiblichen Perspektive zur nächsten springt. Tatsächlich geht es weniger um die Entführung der Kinder als um die weibliche Lebensrealität, wobei auch verschiedene Arten von Gewalt und Unterdrückung thematisiert werden. Besonderes Augenmerk liegt auf den Frauen der indigenen Bevölkerung.

Viele der Charaktere hätte ich gerne noch länger begleitet, bei manchen war ich froh, ihnen auf Nimmerwiedersehen sagen zu können – aber interessant und glaubhaft fand ich sie alle. Ich konnte immer zumindest ein Stück weit nachvollziehen, wenn auch nicht zwangsläufig gutheißen, warum sie tun, was sie tun.

Die Spannung ergab sich für mich daher auch eher aus den gesellschaftlichen und sozialen Differenzen, die sich in einem Panoptikum diverser Perspektiven präsentieren, als aus der Kindesentführung.

Für mich ist “Das Verschwinden der Erde” ein sehr lohnendes Buch, das ich gerne gelesen habe und das mir viel vermittelt hat, was mir bis dato unbekannt war.

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TitelDas Verschwinden der Erde
OriginaltitelDisappearing Earth
Autor(in)Julia Phillips
Übersetzer(in)Pociao
Roberto de Hollanda
Verlag*dtv
ISBN / ASIN978-3-423-28258-1 (Hardcover)
978-3-423-43827-8 (eBook)
978-3-7424-1822-7 (Hörbuch)
Seitenzahl*376
Erschienen im*Januar 2021
Genre*Gegenwartsliteratur
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