© Cover ‘Hawaii’: Hanser Literaturverlage
© Bild Smartphone: Pixabay
Handlung
Kemal Arslan war mal ein ganz Großer: ein gefeierter Fußballstar mit mehr als großzügigem Einkommen, der in seinem Jaguar durch die Gegend fuhr und von schönen Frauen umschwärmt wurde. Jetzt ist er 21 Jahre alt und am Ende. Ein selbst verschuldeter Unfall hat die Fußballkarriere jäh und auf Dauer zerstört, und Kemal hat nichts mehr vorzuweisen. Kein Ziel im Leben, keine Aussichten, keinen echten Antrieb. In Heilbronn lässt er sich hierhin und dorthin treiben, weiß nicht, was er will, lässt sich von seinem Vater ein Vorstellungsgespräch bei einem schmierigen Aufschneider aufschwatzen und von seinem Onkel einen kurzen Ausflug in die Zwischenwelt der türkischen Gang der Kankas. Der Leser begleitet Kemal drei elend heiße Tage und zwei Nächte durch den Problembezirk ‘Hawaii’, während die Streitigkeiten zwischen Nazis und Kankas hochkochen bis zur offenen Schlacht.
»Auf Reise gehen ohne Ziel.«
Zugegeben: ich habe absolut keine Ahnung von Fußball und auch nur wenig Interesse daran. Daher begegnete ich diesen Roman mit einem gewissen Misstrauen – aber auch mit Spannung und Neugierde, denn er wurde von Feuilleton und Literaturbetrieb durchaus positiv aufgenommen.
Denn hier geht es nicht nur um Fußball, sondern auch um das “Dazwischen”, in dem junge Menschen mit Migrationshintergrund leben und wo Kemal nach seinem Absturz aus dem Olymp auch wieder angekommen ist. Es geht um mangelnde Perspektiven und Vorurteile, es geht um die Schwierigkeit, gleichzeitig in der türkischen und der deutschen Gesellschaft zuhause zu sein.
Als ich die letzten Sätze im Geist nachklingen ließ, war ich mir noch im Unklaren, ob Misstrauen oder Neugierde die Oberhand behalten hatten. Ich musste das Buch erstmal ein paar Tage sacken lassen, bevor ich mit dieser Rezension begann, und hier ist nun das Resultat:
Der Schreibstil
Schon nach wenigen Seiten stellte ich fest, dass Protagonist Kemal seine Geschichte in knappem Tempo erzählt, in einer Sprache, die authentisch und ungeschönt wirkt. Blumige Beschreibungen und lyrische Metaphern sucht man hier vergebens, aber die hätten zu diesem jungen Mann, der sich gerade im Limbo zwischen zwei Leben und zwei Gesellschaften befindet und völlig den Halt verloren hat, auch nicht wirklich gepasst.
Das ist knackig, das liest sich schnell und auch unterhaltsam. Nur wenn Kemal sich in der Tiefgarage lange mit seinem kaputten Jaguar unterhält und der auch noch antwortet, las sich das für mich nicht ganz stimmig… Der abgedrehte Humor passt für mich nicht so recht zu dieser Geschichte, da fand ich den lakonischen Witz, der ansonsten immer wieder aus Kemals Worten herausblitzt, wesentlich passender.
Der Protagonist
Kemal ist eigentlich ein sympathischer Typ, der das Herz am rechten Fleck hat, aber er neigt auch dazu, katastrophal schlechte Entscheidungen zu treffen. Hätte er sich nicht auf ein illegales Autorennen eingelassen, wäre er wohl immer noch ein Fußballstar. Hätte er sich nicht von seiner Freundin Sina getrennt, als er reich und erfolgreich war und von weiblichen Fans umgarnt wurde, müsste er ihr jetzt nicht nachweinen.
Da er noch so jung ist, war ich bereit, ihm erstmal einiges nachzusehen. Womit ich mich jedoch sehr schwer tat, war seine Tendenz, alles vor sich herzuschieben. Entscheidungen trifft er nur widerwillig, er braucht immer einen Anstoß von außen bevor er irgendetwas für seine Zukunft tut. Aber Kemal ist mit dieser Planlosigkeit sicher nicht allein, er steht damit für die Verlorenheit einer ganzen Generation.
Dieses Aussitzen und Abwarten bremst zunächst sogar den flotten Schreibstil aus, bis der Autor die Geschichte mit einem Schlag mehr nach außen verlegt, so dass die Spannung nicht länger nur von Kemal allein abhängig ist – doch das ist eine zwiespältige Entscheidung.
Logik und Schlüssigkeit
Es gibt meines Erachtens ein paar Brüche in Erzählfluss, Spannungsbogen und Charakterentwicklung – besonders gegen Schluss, als die Kämpfe zwischen Kankas und Nazis eskalieren. Die Atmosphäre wird mit einem Schlag um einiges cineastischer, die Szenerie macht einen Schwenk von introvertierter Nabelschau zur Schilderung geradezu bürgerkriegsähnlicher Konflikte.
Manchmal ist es so, dass bei einem Buch gegen Ende die Spannung abflaut, hier ist es eher so, dass die Spannung für mein Empfinden zu sehr nach außen verlegt wird, weg von Kemals Innenleben und hin zu drastischen Konflikten zwischen Kankas, Nazis, Polizei. Wobei das natürlich auch wieder sehr bildlich darstellt, wie dringend Kemal einen Weckruf braucht, um sein Leben in die Hand zu nehmen und nicht mehr nur auf Dinge zu reagieren, die ihm aufgezwungen werden. Zu lange war er nur der Spielball der Umstände, weil er es zuließ.
Kemals Bemühungen, seine Ex-Freundin zurück zu gewinnen, fand ich gegen Ende sehr anstrengend und auch ziemlich stalkerhaft.
Charakterentwicklung
“Wo willst du hin?” “Keine Ahnung.”
Über Nacht kann Kemal sich nicht neu erfinden, und so wird er am Schluss zwar irgendwie wachgerüttelt, aber er ist noch lange nicht bei sich selber angekommen. Dennoch: der erste Schritt ist getan und das ist schon eine sehr mutige Entscheidung! Endlich kein Hadern und Aufschieben mehr, kein sich von anderen Menschen Entscheidungen abnehmen oder aufzwingen lassen.
Mehr kann man von diesem jungen Mann wohl nicht verlangen – es ist zu viel passiert für schnelle Lösungen und glatte Happy Ends.
Fazit
Kemal Arslan war vor kurzem noch ein eine echte Berühmtheit auf dem Fußballfeld, bis er sich bei einem illegalen Autorennen sowohl den Jaguar als auch den Fuß zertrümmerte, wodurch dieses Kapitel seines Lebens ruhmlos zu Ende ging. Jetzt ist er 21 Jahre alt und weiß nicht wohin mit sich. Seine türkische Familie versucht, ihn wieder auf Spur zu bringen – der Vater mit einem erkauften Ausbildungsplatz, der Onkel mit der Initiierung bei einer türkischen Gang, die sich blutige Schlachten mit den Nazis liefert.
Nach drei Tagen und zwei Nächten ist Kemal zwar noch nicht bei sich selbst angekommen, aber hat viel darüber gelernt, was er im Leben nicht will.
Die Geschichte ist packend, das Tempo hoch, der Schreibstil schlüssig. Einzig die Art und Weise, wie die Geschichte gegen Ende eskaliert und sich der Fokus von Kemals Innenleben nach außen auf den Kampf zwischen Neonazis und türkischen Gangmitgliedern verlegt, erschien mir nicht ganz stimmig.
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Titel | Hawaii |
Originaltitel | — |
Autor(in) | Cihan Acar |
Übersetzer(in) | — |
Verlag* | Hanser Literaturverlage |
ISBN / ASIN | 978-3-446-26586-8 (Hardcover) 978-3-446-26683-4 (eBook) |
Seitenzahl* | 256 |
Erschienen im* | Februar 2020 |
Genre* | Gegenwartsliteratur |
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