Vom Verlag habe ich das eBook erhalten, außerdem hat mir meine Mutter ein Exemplar als Hardcover zum Geburtstag geschenkt!
© Cover ‘Kostbare Tage’: Diogenes
© Bild Smartphone: Pixabay
Handlung
Es ist der letzte Sommer für Dad Lewis am Rand der Kleinstadt Holt – die er nie verließ, im Gegensatz zu seinem Sohn Frank, zu dem es keinerlei Kontakt mehr gibt, oder Tochter Lorraine, die nun zur Unterstützung zurückkehrt. Aber es kommen auch neue Gesichter und mit ihnen Geschichten: Die kleine Alice zieht im Nachbarhaus bei ihrer Großmutter ein, und der neue Reverend Lyle hat nicht nur mit den eigenwilligen Anwohnern, sondern auch mit der eigenen Familie zu kämpfen.
(Klappentext)
Letzte Segnung
Kennt ihr das, wenn ein Buch euch bitterlich zum Weinen bringt, ihr aber dennoch zutiefst froh seid, es gelesen zu haben? Weil es ein Stück Leben und all dessen Facetten in ein einzigartiges, sprachlich kostbares Gewand hüllt? Ich fühlte geradezu Dankbarkeit gegenüber dem Autor, auch wenn viele Passagen des Buches mir bis auf die Knochen ins Fleisch schnitten.
Kent Haruf schrieb diesen Roman über das Sterben eines alten Mannes kurz vor seinem eigenen Tod, was dem Leser geradezu aus den Seiten entgegenhallt.
Aus seinen Worten spricht eine fundamentale Wahrheit, eine bedingungslose und zugleich behutsame Authentizität. Er redet den unvermeidlichen Verlust nicht klein oder romantisiert ihn, stellt ihn vielmehr als natürlichen Teil des Lebens dar.
Ich habe selten eine so berührende Schilderung des Sterbeprozesses gelesen.
Besonders bewegte mich, dass der Autor nichts schönt oder verschweigt, dem Protagonisten, ‘Dad’ Lewis, dabei aber immer seine Würde lässt. Auch wenn Dads Ehefrau ihm den knochigen Hintern oder die Genitalien wäscht, weil er es selber nicht mehr kann, ist das nicht erniedrigend, sondern vor allem ein Bild bedingungsloser Liebe.
Er stirbt nicht im Krankenhaus, nicht an Maschinen angeschlossen. Seine Frau und seine Tochter sind bei ihm, rund um die Uhr, machen ihm die letzten Tage so angenehm wie möglich. Nachbarn und Freunde kommen vorbei, bringen Essen und plaudern mit ihm; er regelt seine Angelegenheiten, soweit ihm das möglich ist, und veranlasst noch ein paar gute Taten, die ihm am Herzen liegen.
Das hat etwas sehr Herzerwärmendes, Positives, gewürzt mit einer leisen Prise Humor – und gleichzeitig blutete mir beim Lesen das Herz.
Das könnte leicht zum Trauerkitsch werden, aber nein…
Denn der Autor zeigt Dad Lewis als grundlegend guten Menschen, beleuchtet aber auch seine Schwächen und seine größten Fehler. Vor allem das zerbrochene Verhältnis zu seinem Sohn Frank steht im Mittelpunkt – den hat Dad durch hilflos-zornige Intoleranz aus seinem Leben vergrault. Er kann ein sturer alter Bock sein, ein zorniger Patriarch.
Amerikanische Kleinstädte waren in Franks Jugend nicht unbedingt Orte, in denen man ungestraft von der vermeintlichen Norm abweichen konnte – sind es vielerorts wohl immer noch nicht. Dad war nicht vorbereitet darauf, einen Sohn zu haben, der “anders” war, hatte nicht das emotionale Handwerkszeug, um damit umzugehen.
Obwohl man spürt, dass er zu keinem Zeitpunkt aufhörte, Frank zu lieben, tat er dennoch nie den Schritt, zu sagen: es tut mir leid, das war falsch von mir, bitte verzeih mir. Er kann nicht aus seiner Haut, zu tief verwurzelt sind Homophobie und das Idealbild eines Sohnes, der Frank nie sein kann.
Andere Charaktere ergänzen Dads Geschichte, bringen aber auch ihre eigenen Probleme und Thematiken mit.
Haruf ist ein Meister darin, mit einfachen Worten Charaktere zu schreiben, die einem nahe kommen. Dabei beschreibt er auch ihre Schwächen so, dass man sie erkennt, aber nicht verurteilt.
Da ist zum Beispiel die kleine Alice, die gerade ihre Mutter verloren hat und daher einen anderen Blick auf Tod und Trauer einbringt. Dreht sich ansonsten viel des Romans um die Vergangenheit, schlägt Alice den Bogen in die Zukunft und wird zum Trost und Rettungsanker für zwei Frauen, denen der Lebensmut abhanden gekommen ist.
Oder da ist Reverend Lyle, der nach Holt zwangsversetzt wurde, weil er sich für einen homosexuellen Priester einsetzte. In Holt macht er sich nicht nur Freunde – das Buch spielt nach 9/11, und die Leute wollen keine Predigten über Versöhnung hören, sondern schreien nach Rache. Sein Sohn schämt sich für ihn, ist wütend und ratlos und will einfach nur noch weg aus Holt…
Harufs Sprache kann so viel in so wenigen einfachen Worten ausdrücken.
Sie eröffnen eine mühelose Weite: man sieht geradezu die Felder vor sich und hört den Wind, der darüberpfeift. Man sieht die Charaktere, kann sich ihr Lächeln, ihr Stirnrunzeln und ihre kleinen Marotten vorstellen.
Die Sprache ist klar, manchmal geradezu nüchtern, immer aufs Wesentliche reduziert – und dennoch ausdrucksstark und cineastisch. Es sind die kleinen Momentaufnahmen des alltäglichen Lebens, die Kent Haruf so meisterhaft beherrscht. Obwohl sie für die eigentliche Handlung meist kaum eine Rolle spielen, sind sie echte Highlights; positive und hoffnungsvolle Episoden sorgen im Zusammenspiel mit den ernsten Themen für Balance.
Fazit
Dad Lewis liegt im Sterben, gepflegt von seiner Frau und seiner Tochter, besucht von Freunden, Nachbarn und Angestellten. Er regelt seine Angelegenheiten, bereut nur wenig – wäre da nicht sein Sohn Frank, den er vor vielen Jahren in intolerantem Zorn vertrieb. Der Autor gibt auch vielen Menschen in seinem Umfeld eine Stimme, zeigt ihre Hoffnungen, Ängste und Wünsche – ein chaotisches Kaleidoskop der menschlichen Natur.
Kent Haruf hat, kurz vor seinem eigenen Tod, ein so schmerzliches wie wunderbares Buch über das Sterben und dessen Unvermeidlichkeit geschrieben. Bei aller Trauer, bei allem Schmerz, enthält das Buch dennoch vor allem Hoffnung und Liebe.
Der Titel ist passend: Dad Lewis’ letzte Tage sind kostbar, für ihn selbst und für die Menschen, die ihn lieben.
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Titel | Kostbare Tage |
Originaltitel | Benediction |
Autor(in) | Kent Haruf |
Übersetzer(in) | pociao Roberto de Hollanda |
Verlag* | Diogenes |
ISBN / ASIN | 9783257071252 (Hardcover) 9783257610116 (eBook) |
Seitenzahl* | 352 |
Erschienen im* | Juni 2020 |
Genre | Gegenwartsliteratur |
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches |
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