© Cover ‘Dieses ganze Leben’: Diogenes-Verlag
© Bild Smartphone: Pixabay
Handlung
Die 15-jährige Paola passt nirgendwo so recht dazu, findet nirgendwo Halt, wird nirgendwo verstanden – nur ihr Bruder Richie, der im Rollstuhl sitzt, ist ihr Verbündeter in einer Familie, die ihnen keine Wärme gibt. Einmal am Tag soll Paola mit ihm spazieren gehen, stattdessen sitzen sie die Zeit in einem Viertel ab, das ihre Mutter aus unerfindlichen Gründen hasst. Doch irgendwann bricht das echte Leben über sie herein, im Guten wie im Schlechten, und das lässt sich nicht mehr aufhalten…
Die Beziehung der Geschwister:
Die Geschwister sind ein eingeschweißtes Team, obwohl Paola damit aufgewachsen ist, dass Richies Existenz die Familiendynamik und damit auch ihr Leben grundlegend verändert hat. Aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme spielt sie zwangsläufig immer die zweite Geige, aber man spürt: sie liebt ihn trotzdem. Ganz normale geschwisterliche Konflikte bleiben nicht aus, werden manchmal von ihrer besonderen Situation auf die Spitze getrieben, aber wenn es darauf ankommt, halten sie bedingungslos zusammen.
Die Autorin beschreibt das erfreulicherweise ganz ohne Kitsch – Rührseligkeit hätte diese Geschichte meines Erachtens ruiniert! So hat sie einen ungemein authentischen Klang und bietet eine starke Geschichte, die erzwungene Gefühlsduselei gar nicht nötig hat, um zu bewegen.
Trotz aller Liebe ist die Dynamik zwischen den Geschwistern nicht unproblematisch.
Sie frönen gemeinsam ungesundem Verhalten, so schlingen sie zum Beispiel täglich große Mengen an Junkfood herunter, während sie eigentlich eine Stunde spazierengehen sollten. Dass das niemandem auffällt, sagt eigentlich schon alles… Diese Kinder vereinsamen vor aller Augen.
Beiden fehlt eine sichere familiäre Basis – eine liebevolle Struktur, die mehr bietet als nur das Weiterreichen an die besten Experten und Ärzte. Denn wenn eines beim Lesen ins Auge springt, dann das Fehlen positiver erwachsener Bezugspersonen.
Andere Charaktere:
Als die Geschwister Antonio kennenlernen, der dem vermeintlichen Standesdünkel der Eltern bei weitem nicht genügt und auch noch in einem von der Mutter verhassten Viertel lebt, wird er im besten Sinne zum Stein des Anstoßes – alles gerät in Bewegung, was bei Paola und Richie eine großartige Charakterentwicklung auslöst. Antonio selber ist ein wunderbarer Charakter, den ich sehr schnell ins Herz geschlossen habe!
Die Charaktere lesen sich alle sehr lebendig und überzeugend ausgearbeitet – auch die Nebencharaktere, wie die rumänische Haushaltshilfe Nina, die quasi zur Ersatzmutter für Paola und Richie wird. Dann gibt es da zum Beispiel noch Marta, die ständig versucht, sich mit Paola anzufreunden, dabei aber unsäglich affektiert und überheblich rüberkommt. Dass dahinter eine große Verzweiflung steckt, kann man anfangs nur erahnen, aber auch Marta ist ein wesentlich komplexerer Charakter, als es zunächst den Anschein hat.
Ganz nebenher kommt die tragische erste Liebe der Großmutter ans Licht – ein nettes Schmankerl am Rande.
Die Eltern:
Mein erster Eindruck war, dass die Eltern bis zu einem gewissen Punkt aufgegeben und sich ausgeklinkt haben. Sie sind wohlhabend, so dass es ihren Kindern an allem mangelt außer Geld. Der Vater ist wenig mehr als eine Leerstelle im Familiengefüge.
Auch das distanziert gefühlskalte Verhalten der Mutter stellte mich von der ersten Seite an vor Rätsel. Es wirkte auf mich so, als würde sie ihre Kinder von einem Experten zum nächsten schicken, um sich bloß nicht selbst mit ihnen auseinander setzen zu müssen – aber warum? Ich fragte mich: weiß sie sich einfach nicht zu helfen ob zweier Kinder, deren Anforderungen und Probleme sie sich für ihr Bilderbuchleben nicht vorgestellt hat? Gibt sie sich insgeheim die Schuld? So oder so versagt sie kläglich darin, für ihre Kinder da zu sein – auf verschiedene Weisen.
Der stete Tropfen höhlt den Stein, das sind viele sicher kleine, dafür aber ständige Verletzungen der Kinderseele. Sie beruhigt ihr schlechtes Gewissen mit seltenen Ausflügen, an denen Paola und ihr Bruder nicht mal Spaß haben.
Richie wird von ihr behandelt wie ein Kleinkind, dabei ist er weder dumm noch völlig unfähig, manche Dinge auch alleine zu machen. Sie packt ihn in Watte, bis er daran erstickt. Und Paola gibt sie zwar das Gefühl, ihr Essverhalten zu missbilligen, hilft ihrer Tochter aber auch nicht dabei, ein gesünderes zu entwickeln. Dazu müsste man sich ja auch mit den Ursachen auseinander setzen, und in dieser Familie wird alles unter den Teppich gekehrt… Tatsächlich erfährt man im Laufe der Geschichte, dass sich dahinter ein großes Geheimnis verbirgt, was sich im letzten Teil des Buches fast schon liest wie ein Thriller.
Paolas Entwicklung:
Paola hat es nicht leicht – in der Schule wird sie gemobbt, zuhause nicht wirklich wahrgenommen. Sie hat keine Freundinnen, fühlt sich nur in ihrem Büchern zuhause. Dass sie sich die Pfunde nur so anfuttert, ist ein echter Hilfeschrei! Da kann ich ihr das gelegentliche “Ich hasse ALLES” auch nicht übelnehmen – sie hat viel Grund dazu und sie ist eben auch ein Teenager. Allerdings hat sie eine deutlich verzerrte Wahrnehmung und sieht sich selber als viel fettleibiger, als sie es tatsächlich ist. Irgendwann wird ihr BMI erwähnt und sie ist zwar übergewichtig, aber bei weitem nicht der Wal, als den sie sich darstellt… Aber sie ist auf dem selbstzerstörerischen Weg dahin!
“Es gibt Momente der Leere, die nur streichfähige Schokolade füllen kann”
Paola kann manchmal sehr blind sein, obwohl sie in anderen Dingen für ihr Alter schon sehr klug und einsichtig ist. Durch Antonio beginnt sie damit, sich in weniger negativem Licht wahrzunehmen und die Schuld nicht immer bei sich selbst zu suchen. Das führt nach und nach dazu, dass sie erst zaghaft und dann zunehmend selbstbewusster die Wahrheit einfordert und ihre Mutter mit deren Verhalten konfrontiert.
Dieser Prozess wird von der Autorin sehr klar und nachvollziehbar geschildert – und das geht manchmal an die emotionale Substanz, manchmal aber auch an die Lachmuskeln. Ich fand es großartig geschrieben!
Der Schreibstil:
Schon nach kurzem Reinlesen habe ich mich mehr und mehr in den Schreibstil verliebt, der Paolas Persönlichkeit wunderbar widerspiegelt. Sie ist sehr intelligent und hat einen wachen Blick darauf, was um sie herum geschieht, dementsprechend ist auch die Sprache klar und deutlich, hat aber genug Ecken und Kanten, um die Gedanken eines Teenagers mit großen Problemen glaubhaft darzustellen. Und ihr Sinn für Humor ist kostbar!
Eine kurze Notiz:
Am Schluss der Geschichte passieren ein paar Dinge, die ich nicht hundertprozentig glaubhaft fand, die für die Entwicklung von Richies Charakter aber sehr wichtig sind. Für mich daher nur ein kleiner Abstrich.
Fazit
Paola wird in der Schule gemobbt und ist stark übergewichtig. Ihre Mutter ist emotional eher unnahbar und kalt, der Vater glänzt durch ständige Abwesenheit… Nur ihr Bruder, der im Rollstuhl sitzt, ist für sie da und umgekehrt geht es ihm genauso. Doch im Verlaufe der Geschichte bricht das Leben über sie herein: Paola verliebt sich und entdeckt eine unerwartete Freundschaft, Richie spielt Schach und läuft einen Berg hoch, und die Geschwister decken gemeinsam das große Geheimnis ihrer Familie auf.
Raffaella Romagnolo schreibt wunderbare Charaktere – ganz ohne Kitsch, dafür authentisch und mit viel Humor; der Tiefgang geht dabei auch nicht verloren!
Der Schreibstil liest sich prägnant und unterhaltsam, die junge Protagonistin ist ungemein sympathisch, die Handlung ist schlüssig und geschickt durchkonstruiert… Für mich ist “Dieses ganze Leben” ein Roman vom Allerfeinsten.
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Titel | Dieses ganze Leben |
Originaltitel | Tutta questa vita |
Autor(in) | Raffaella Romagnolo |
Übersetzer(in) | Maja Pflug |
Verlag* | Diogenes |
ISBN / ASIN | 978-3-257-07144-3 (Hardcover) 978-3-257-61144-1 (eBook) 978-3-257-69372-0 (Hörbuch) |
Seitenzahl* | 272 |
Erschienen im* | Oktober 2020 |
Genre* | Gegenwartsliteratur / Coming of Age |
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches |
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