© Cover ‘Winterbienen’: C.H. Beck
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1944: Am Rande des Abgrunds
Egidius Arimond: Imker, Epileptiker, als “unwertes Leben” und “Volksschädling” immer in Lebensgefahr. Die Euthanasie droht, die Zwangssterilisierung wurde ihm schon angetan, der parteigläubige Apotheker knöpft ihm horrende Summen für seine Medikamente ab.
Egidius ist Flüchtlingshelfer, weil er das Geld für seine Medikamente verzweifelt braucht. Schon länger ist er gezwungen, mit immer niedrigeren Dosierungen auszukommen, doch das rächt sich. Immer mehr Anfälle, immer mehr Stürze, immer deutlicher spürt er, wie die Epilepsie sein Gehirn verwüstet. Aber auch wenn Egidius sich selber ganz ungeschönt als Helfer aus Notwendigkeit und Eigennutz beschreibt, ahnt der Leser doch, dass ihm seine menschliche Fracht keineswegs egal ist.
Seine Methode ist so einfach wie genial: niemand wundert sich, wenn ein Imker Bienenstöcke transportiert, daher karrt er die Flüchtlinge in solchen, ausgeklügelt umgebaut, zum vereinbarten Ziel nahe der belgischen Grenze. Doch so erfolgreich diese Methode auch ist, endet nicht für jeden Flüchtling das Martyrium mit der Flucht. Da spielen sich Tragödien ab, bei denen man kaum weiß, ob man weinen soll oder sich übergeben vor Ekel über die menschliche Grausamkeit.
Egidius’ Epilepsie wird zum Spiegelbild des Kriegs, der immer wütender tobt, je deutlicher sich die drohende Niederlage abzeichnet.
Die Fronten verschieben sich, Bündnispartner lassen Deutschland im Stich, die Bevölkerung zweifelt mehr und mehr am Endsieg, und Egidius kämpft auf vielen Ebenen um seinen Verstand und sein Leben.
Was ihm noch ein wenig Freude schenkt, sind zahlreiche Frauengeschichten. Dass aufgrund Egidius’ Sterilisation keine Gefahr besteht, einem heimkehrenden Gatten ein Kuckuckskind erklären zu müssen, kommt ihm hier zugute – doch er begibt sich in Gefahr, als er eine Affäre mit der Gattin eines ranghohen Offiziers beginnt.
Die Sprache ist knapp, unaufgeregt, sachlich, gelassen.
Das entspricht sicher Egidius’ Naturell , aber es wirkt auch nüchtern, sogar in grauenhaften Situationen geradezu emotionslos. Man weiß natürlich, dass dem nicht so ist – dass Egidius das Herz rast, dass er Todesangst aussteht, dass er schier verzweifelt am Verfall seines Gehirns. Aber man bleibt als Leser meines Erachtens immer etwas auf Abstand und damit ein stiller Beobachter, der nicht in die Geschehnisse involviert ist.
Das Buch erfordert eine gewisse Mitarbeit, um Leerstellen zu füllen und Emotionen zu ergänzen. Das lohnt sich mit Sicherheit, aber manchmal hätte ich mir dann doch einen etwas unmittelbareren Zugang zu Egidius Gefühlswelt gewünscht. In manchen Passagen wird das Tempo auch eher schleppend und der Spannungbogen sinkt deutlich ab.
Egidius Arimond gab es übrigens wirklich, auch wenn Norbert Scheuer hier keine rein faktische Biographie schreibt, sondern einen fiktionalisierten Roman.
Überzeugend ist die Symbolkraft, mit der übergroße Konzepte abgebildet werden auf das Leben im Allerkleinsten.
Wie schon erwähnt, ist Egidius’ Epilepsie ein deutliches Bild für die Brutalität des Krieges, aber jedes Ding und jedes Ereignis wird zum Symbol. Im Surren der Bienen hallt das Röhren der Jagdflugzeuge wider; das Sterben der Drohnen und Arbeiterinnen, die für das Überleben des Volkes nicht mehr gebraucht werden, wird zum Sinnbild für das Sterben der Menschen. Erschreckend ist ein beiläufiger Satz, in dem Egidius berichtet, er habe die Bienenkönigin töten müssen, denn es schade dem Guten, der die Schlechten schont – eine unschöne Parallele zur nationalsozialistischen Gesinnung.
Scheuer macht das mit leichter Hand, ohne dem Leser die Vergleiche platt vor Augen zu halten. Er sagt nie: das bedeutet das, oder dies steht für jenes. Hier ist wieder die Mitarbeit des Lesers gefragt ist, und das ist gut so.
Interessant ist auch, dass eine Verbindung geschaffen wird zwischen dem Jahr 1944 und dem Mittelalter.
Denn Egidius stellt Nachforschungen an zum Leben seines Ahnen, des Benediktinermönches Ambrosius. Der litt nicht nur an einer Krankheit, bei der es sich wahrscheinlich um Epilepsie handelte, sondern er war Imker und legte im Jahr 1492 Grundlagen für die Erforschung der Bienenzucht. Insofern war er ein Mensch, in dem Egidius sich wiederfindet, und dessen Leben ihn ablenkt von dem Grauen um ihn herum.
Die Passagen, in denen es um Ambrosius’ Leben geht, lesen sich wie ein Historienschmöker: Der junge Mönch war Teil eines Trosses, der das Herz des angesehen verstorbenen Gelehrten Nikolaus Cusanus über die Alpen bringen sollte, und Ambrosius war es auch, der eine geniale Möglichkeit fand, das Herz vor der Verwesung zu retten.
Egidius’ Nachforschungen zu Ambrosius und die Notizen, die er sich zu seiner Arbeit als Flüchtlingshelfer macht, werden zu seinem Lebenselixier. Sie sind das Einzige, was ihm noch bleibt.
Fazit
Im Jahr 1944: der Imker Egidius Arimond ist Epileptiker und wird von den Nazis daher als Parasit betrachtet. Um sich die Medikamente leisten zu können, die für ihn lebensnotwendig sind, beginnt Egidius damit, für gutes Geld Flüchtlinge in umgebauten Bienenkästen zur belgischen Grenze zu bringen.
Das Leben schreibt mal wieder die unglaublichsten Geschichten, denn Egidius Arimond gab es tatsächlich. Norbert Scheuer hat aus den wahren Ereignissen eine überaus symbolträchtige Fiktion gemacht, die den Wilhelm Raabe Literaturpreis sicher verdient hat. Allerdings ist dies kein Roman, in dem man ohne Weiteres abtauchen kann – der Autor gibt Egidius eine sehr sachliche, nüchterne Stimme, die eine gewisse Distanz aufbaut.
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Titel | Winterbienen |
Originaltitel | — |
Autor(in) | Norbert Scheuer |
Übersetzer(in) | — |
Verlag* | C.H. Beck |
ISBN / ASIN | 978-3-406-73963-7 (Hardcover) 978-3-406-73964-4 (eBook) |
Seitenzahl* | 319 |
Erschienen im* | Juli 2019 |
Genre | Zeitgeschichtlich / Gegenwartslieratur |
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches |
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