#Rezension Muriel Spark: Die Blütezeit der Miss Jean Brodie

Muriel Spark: Die Blütezeit der Miss Jean Brodie

Titel der Originalausgabe: The Prime of Miss Jean Brodie
Übersetzung von: Andrea Ott
Mit einem Nachwort von Candia McWilliam
Verlag der dtsch. Ausgabe: Diogenes
Verlag des Originals: Macmillan

Inhaltsverzeichnis

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Die Autorin
Literarische Preise
Handlung
Lesbarkeit für moderne Leser:innen
Die Ich-Bezogenheit der Miss Jean Brodie
Die Brodie-Mädchen
Schreibstil
#5
Fazit

Die Autorin

Muriel Spark

Dame Muriel Sarah Spark (geb. Muriel Camberg, 1918 bis 2006) war eine schottische Schriftstellerin, die bis heute als eine der bedeutendsten englischsprachigen Autorinnen angesehen wird.

Geboren wurde sie in einem Arbeiterviertel von Edinburgh, als zweites Kind eines jüdischen Motormechanikers, der wegen mangelnder Stellen aber als einfacher Arbeiter sein Geld verdiente, und einer anglikanischen Mutter. Muriel wurde im anglikanischen Glauben erzogen, konvertierte aber später zum Katholizismus (interessant ist in dem Kontext, dass sie in “Die Blütezeit der Miss Jean Brodie” (»Th Prime of Miss Jean Brodie«) unter anderem das Thema Religion und persönliche Glaubensvorstellungen anschneidet). Einen starken Einfluss hatte in Muriels Kindheit sicher auch ihre Großmutter, die sich für das Frauenwahlrecht einsetzte und ihrer Enkelin ein starkes Frauenbild vorlebte.

Bücher und Literatur spielten in der Familie Spark überraschenderweise keine große Rolle.

Muriel wurde dennoch früh zum Dauergast in der Bibliothek, las sich quer durch die Klassiker und wurde in der Schule schon mit 12 Jahren für ihre Gedichte gelobt. Ebenfalls interessant ist, dass Muriel trotz der bescheidenen finanziellen Mittel ihrer Familie von 1923 bis 1935 in einer Privatschule unterrichtet wurde, die der in »Die Blütezeit der Miss Jean Brodie« nicht unähnlich war. Obwohl ihre Noten gut genug waren, um ein Stipendium für ein Universitätsstudium zu bekommen, entschied sie sich dafür, dies auszuschlagen und nach der Schule erst als Englischlehrerin, dann als Sekretärin zu arbeiten.

Im Jahr 1937 heiratete die 19-jährige Muriel den Mathematiklehrer Sydney Oswald Spark und folgte ihm nach Rhodesien, wo er in den Kolonialdienst eintrat. Aufgrund einer psychischen Erkrankung (heute würde man es wohl als bipolare Störung einordnen) konnte er dort aber keine Stelle länger halten, litt deswegen zunehmend an Depressionen und wurde schließlich nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Robin gewalttätig. Muriel verließ ihren Mann schon 1940, aber er lauerte ihr immer wieder auf und bedrohte sie. Da sie keine Möglichkeit sah, mit ihrem Sohn nach England zurückzukehren, gab sie Robin in eine Pflegefamilie und reiste 1944 alleine zurück in die Heimat, wo sie bis Kriegsende in der militärischen Aufklärung tätig war. Ihr Sohn wurde später mit seinem Vater, der auf der Reise unter medizinischer Beobachtung stand, zurück nach England gebracht und von seinen Großeltern mütterlicherseits großgezogen.

Erst nach dem Krieg begann Muriel Spark damit, ernsthaft zu schreiben, zunächst hauptsächlich Gedichte und Literaturkritik.

1954 konvertierte sie zum katholischen Glauben und sprach später davon, erst das habe ihren Blick ausreichend erweitert, um auch Romane zu schreiben. 1957 brachte sie «Die Tröster» (»The Comforters«) heraus und war danach finanziell in der Lage, vom Schreiben zu leben. Erst vier Jahre und fünf positiv aufgenommene Werke später erschien »Die Blütezeit der Miss Jean Brodie«, von vielen Kritikern als ihr Meisterwerk angesehen.

Muriel Spark lebte später in New York, dann in Rom und schließlich im kleinen toskanischen Dorf Civitella della China, wo sie dann auch ihren Lebensabend verbrachte.

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Literarische Preise

Die Liste der Auszeichnungen für Muriel Spark und ihre Werke ist lang, deswegen beschränke ich mich hier auf eine Auswahl. 

Preise für die Autorin und ihr Gesamtwerk:

  • 1992: T.S. Eliot-Preis für kreatives Schreiben
  • 1993: Britischer Verdienstorden “Dame Commander” 
  • 1995: Ehrendoktortitels der University of Aberdeen 
  • 1995: Ehrendoktortitel der Heriot-Watt University of Edinburgh
  • 1995: Ehrenmitgliedschaft in der Royal Society of Edinburgh
  • 1997: David Cohen British Literature Prize 
  • 1998: Gold Pen Award des English Centre of International P.E.N. 
  • 1999: Ehrendoktortitel für Literatur der Oxford University
  • 2005: Ehrendoktortitel der amerikanischen Universität in Paris
  • 2008: Platz 8 der Liste der “größten britischen Schriftsteller seit 1945” in der Zeitung “Times” 

Preise und Auszeichnungen für “Die Blütezeit der Miss Jean Brodie”: 

  • 1961: Sonderausgabe der Zeitschrift “New Yorker” zum Buch
  • 1998: Platz 76 der “100 Best Books of the Century” (“100 beste Bücher des Jahrhunderts) der “Modern Library Publishers”
  • 2005: Die “Time” wählte das Buch zu einem der besten 100 englischsprachigen Romane, die zwischen 1923 und 2005 veröffentlicht wurden 
  • 2009: Auflistung in den  “1000 novels everyone must read” (“1000 Bücher, die jeder lesen muss”) der Zeitschrift “The Guardian”
  • 2015: 82 internationale Literaturexperten wählen “Miss Jean Brodie” zu einem der bedeutendsten britischen Romane
  • Die Madison Public Library wählte das Buch zum “Readable Classic” (“Gut lesbarer Klassiker”)

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Handlung

Miss Jean Brodie, charismatische und exzentrische Lehrerin an einer Töchterschule im Edinburgh der Dreißigerjahre, will mit ihren unorthodoxen Lehrmethoden ihre Schülerinnen zu kompromisslos selbständigen und romantischen jungen Damen erziehen. Doch nicht nur damit eckt sie an, sondern auch mit ihrem unstatthaften Liebesleben und ihrer heimlichen Begeisterung für den aufkommenden Faschismus. Sechs Mädchen gehören zur »Brodie-Clique«, deren Leben und Phantasien über Jahre von der Lehrerin beherrscht werden, und eine von ihnen wird Miss Brodie verraten.

(Klappentext)

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Ein zugänglicher Klassiker

Lesbarkeit für moderne Leser:innen

Als erstes möchte ich der Madison Public Library (der öffentlichen Bibliothek von Madison) zustimmen, die das Buch auf ihre »Liste der 100 gut lesbaren Klassiker« gesetzt hat. Die Bibliothek definiert die beiden Kriterien wie folgt (von mir ins Deutsche übersetzt):

Buch 1

»Ein Klassiker ist ein Werk von anhaltendem Interesse und anhaltender Anziehungskraft, in dem folgende Generationen zeitlose Wahrheiten finden können. Gut lesbar sind diejenigen Klassiker, deren Anziehungskraft sich direkt offenbart und durchweg bestehen bleibt.«

Beides trifft in meinen Augen auf dieses Buch zu. Ich war schon nach wenigen Sätzen gefangen von der Geschichte rund um Miss Jean Brodie, diese so charismatische wie manipulative, so weltoffene wie engstirnige Lehrerin, und ihre Lieblingsschülerinnen. Muriel Spark spricht in diesem dünnen Bändchen eine erstaunliche Vielzahl an Themen an: Erziehung und die Rolle von Autoritätspersonen im Leben ihrer Schützlinge, Gruppendynamik und Individualität, Vorbestimmung und freier Wille, Instinkt und rationale Einsicht, Sexualität, Religion, Faschismus…

Das liest sich auch für moderne Leser:innen erstaunlich unterhaltsam, mit einem großartigen Humor. Dennoch ertappt man sich noch Stunden, nachdem man das Buch zugeklappt hat, dabei, wie man darüber nachgrübelt.

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Die Ich-Bezogenheit der Miss Jean Brodie

Miss Jean Brodie ist eine unkonventionelle Lehrerin, die sich mit selbstverständlicher Missachtung über die vorgeschriebenen Lehrpläne hinwegsetzt. Wenn eigentlich Geschichte oder Grammatik an der Reihe wären, erzählt sie stattdessen von ihrem glamourösem Leben – ihren Reisen, ihrer tragischen großen Liebe und immer wieder von der Bedeutung ihrer persönlichen “Blütezeit”, die sie für ihre Schülerinnen opfert.

Pastel Bird 4

Ich habe schon erwähnt, dass sie eine charismatische Frau ist, die das aber auch einsetzt, um Menschen zu manipulieren: Sie wählt sich ganz bewusst Schülerinnen heraus, die ihr würdig erscheinen, und beginnt damit, sie nach ihrem Vorbild zu formen. Einerseits erweitert sie mit ihren außergewöhnlichen, manchmal sogar radikalen Ideen sicher den Horizont ihrer Mädchen, anderseits erwartet sie von ihnen, diesen dann direkt wieder einzuschränken – denn Miss Brodies grundlegendste Eigenschaft ist vielleicht ihre Ich-Bezogenheit.

Ob bewusst oder unbewusst, in ihrer kleinen Welt ist sie selbst das Maß und Zentrum aller Dinge, und sie erwartet ständige Bewunderung und Bestätigung, sowie bedingungslose Loyalität. Der Verdacht drängt sich auf, dass Miss Brodies angeblich so schillerndes Leben in Wirklichkeit doch nur ein ganz gewöhnliches, vielleicht sogar armseliges ist … Ihr Verhalten ist oft übergriffig und für das Alter ihrer Schülerinnen vollkommen unangemessen.

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Die Brodie-Mädchen

Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, würde ich auf jedes Brodie-Mädchen einzeln eingehen, deswegen möchte ich nur Sandy und Mary erwähnen.

Sandy

Pastel Bird 6

Es wird immer wieder erwähnt, dass Sandy außergewöhnlich kleine Augen hat, und dennoch ist sie wahrscheinlich diejenige mit der klarsten Einsicht in die Gruppendynamik der Auserwählten von Miss Brodie – was allerdings nicht heißt, dass es ihr leichtfällt, sich dem zu widersetzen!

Sie versteht instinktiv, dass Miss Brodie die einfältige, ungeschickte Mary ganz bewusst zum Sündenbock macht, um der Gruppe sozusagen ein Ventil für ihre Frustrationen und Zweifel zu geben, das sie beliebig steuern kann. An einer Stelle setzt sie Miss Brodies Instrumentalisierung von Gruppenzwang und Feindbildern gleich mit der Art von Dynamik, mit der charismatische Despoten wie Mussolini ihre Anhänger an sich binden – was umso bestürzender ist, da Miss Brodie tatsächlich glühende Anhängerin von Mussolini und Hitler ist.

Sandy scheint im gleichen Maße angezogen und abgestoßen von ihrer Lehrerin, und ich habe mich ein paarmal gefragt, ob sie nicht auch unterdrückte romantische Gefühle für sie hat.

Mary

Buch 4

Traurigerweise kann sich sogar die immer wieder erniedrigte und gescholtene Mary nicht von Miss Brodies Einfluss lösen sondern denkt Jahre später noch darüber nach, dass die Zeit mit Miss Brodie die schönste ihres Lebens war. Überhaupt hatte ich das Gefühl, dass die Mädchen alle auf irgendeine Art in ihrer emotionalen Entwicklung verkrüppelt wurden durch Miss Brodies’ Einfluss.

Es ist immer mal wieder die Rede von den beiden Männern in Miss Brodies’ Leben, aber auch diese werden von ihr manipuliert und als Mittel zu dem Zweck eingesetzt, ihr schnödes Dasein dramatischer und glamouröser zu gestalten. Es ist verstörend, wie sie sogar in diesem Aspekt ihres Lebens danach strebt, durch ihre Schülerinnen quasi eine zweite Jugend zu erleben.

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Schreibstil

Buch 2

Den Schreibstil fand ich ganz wunderbar, mit zarten Formulierungen und genau der richtigen Mischung aus Ernsthaftigkeit und Humor. Ich habe das Buch ursprünglich in der deutschen Übersetzung von Peter Naujack gelesen, dann im englischen Original und schließlich in der Neuübersetzung von Andrea Ott. Diese liest sich meines Erachtens frischer, mit mehr Gespür für die feinen Spitzen, aber auch die weniger subtilen Momente kostbaren bösen Humors.

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Fazit

Lieblingsbuch

Eine so charismatische wie eigensüchtige Lehrerin steuert in den 30er Jahren das Leben einer kleinen Gruppe auserwählter Schülerinnen, scheitert aber letztlich in ihren selbstherrlichen Plänen. So könnte man es zusammenfassen, denn es passiert an sich nicht viel in diesem kleinen Büchlein – es lebt weniger von der Handlung als von den Einsichten in das oft verquere Seelenleben der Charaktere und die merkwürdige Dynamik innerhalb ihrer sozialen Gruppe.

Und ganz nebenbei kommen auch Themen wie Faschismus zur Sprache – und dieser wird von Miss Jean Brodie keineswegs negativ bewertet! Tatsächlich erscheint ihre Art, die Schülerinnen in absoluter Loyalität an sich zu binden, den Methoden von Hitler oder Mussolini nicht unähnlich.

“Die Blütezeit der Miss Jean Brodie” ist in meinen Augen ein sehr guter Einstieg für Leser, die sich gerne mehr mit den Klassikern der Literatur beschäftigen möchten: es ist kurz, leicht verständlich und unterhaltsam, bietet dabei aber viel Stoff zum Nachdenken.

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