© Cover ›Blutbuch‹: Dumont
© Grafiken: A.M. Gottstein
In dieser Rezension verwende ich die non-binären Pronomen ‘dey/denen/deren’
»this text is my book of fear«
Kim de l’Horizons literarisches Ich ist auf der Suche. Nach anderen Arten, auf dieser Welt zu leben, anderen Formen des Daseins.
Kim sucht und Kim findet. Nicht nur eine unvergleichliche Stimme für deren persönliche Erfahrungen und Lebenswirklichkeit, sondern ganz neue Perspektiven zum Thema Identitätsfindung und Inklusion abseits binärer Gender-Grenzen. Besonders in den Passagen, die Kim aus Sicht derens kindlichen Ichs erzählt, spürt mensch, wie herzzerreißend schwer es ist, zu dir selbst zu finden, wenn die Sprache für dich keine Worte hat. Weil du durchs Raster fällst. Weil das nicht sein darf. Mädchen oder Junge, andere Arten des Daseins sind nicht vorgesehen. Wohl nicht von ungefähr hatte Kim als Kind das Gefühl, keinen eigenen Körper zu besitzen.
»Mir scheint, dass in der Körpersprache der Männer ein altes Erbe weitergegeben wird, das in der Angst gelernt, im Wettkampf geübt und im Krieg gesprochen wird. Noch heute erfüllt es mich mit Entsetzen, wenn ich dieser Sprache begegne. Wenn junge Männer auf mich zukommen, mit dieser Aggression in den Schultern, mit dieser Breite im Schritt, mit dieser Sicherheit, in ihrem Körper richtig zu sein, dieser goddamn-cocky Brunft-Brüll-Sprache der Glieder, des Dominierens, Überwältigens, Verdrängens, BÄÄMM, HIER BIN ICH, DAS IST MEIN RAUM.«
(Zitat)
»Das ist Fluch, das ist Einschränkung« sagte Kim auf dem ‘Großen Longlist-Abend’ im Literaturhaus Hamburg. Aber es ist nicht nur die Gender-Doktrin, mit der »Blutbuch« bricht, sondern auch die patriarchalische Tradition des klassischen Familienromans.
»I realize that fear deletes what it records.«
Kim bindet das Narrativ derens Familiengeschichte nicht an die Väterlinie, sondern autofiktional an die von der Mutter der Erzählfigur recherchierte Mütterlinie. Der Fokus liegt so auf den nicht-männlichen Perspektiven, löst sich – trotz des Titels – auch von der Vorstellung, Identität sei nur an das Blut gebunden. Die Erzählung rauscht und wogt durch die Generationen, folgt dem Stammbaum von Frau zu Frau zu Frau. Jede dieser Ahninnen ist ein Schritt, mal vorsichtig, mal beherzt, auf dem Weg zur Selbstvergewisserung und historischen Verwurzelung.
»Deine Hände waren für mich immer die grauenvollsten Tiere auf der ganzen Welt. Nicht weil sie mich bedrohten, weil sie mich packten und streichelten. Sondern weil ich immer spürte, dass ich ihre Geschichte erbe. Dass sich diese Erzählung schon in meinen Körper übersetzt hat und nicht herausfinden wird, wenn ich nichts mache, wenn ich nichts aus ihr mache, wenn ich sie nicht verwandle.«
(Zitat)
Ausführlich und zentral spricht Kim von und mit der Großmeer (berndeutsch für ‘Großmutter’), die Stück für Stück an die Demenz verloren geht. Erzählt von ihrer oft geradezu überwältigenden Körperlichkeit, ihrer Dominanz, aber auch ihren Traumata. Meer. Großmeer. Da ist eine große Zärtlichkeit, unterströmt von Furcht und klagend-resigniertem Unverständnis, gegen das es anzuschreiben gilt.
»I did not invent what you are to me.«
Kim droht in diesem wogenden mütterlichen Ozean unterzugehen, findet jedoch trotz allem zum eigenen Selbst und zu einer eigenen Sprache – und die ist wahnsinnig.
Wahnsinnig mutig, wahnsinnig kreativ, wahnsinnig innovativ. Je nach Kontext erfindet sie sich immer wieder neu, oft gewagt und kompromisslos, doch meines Erachtens nie forciert oder unglaubwürdig. Kim wechselt die Stile, die Bedeutungsebenen, sogar die Sprachen. Immer wieder hielt ich beim Lesen einen Moment inne, in schierem Erstaunen, beeindruckt und überwältigt. Das ist ein literarischer Befreiungsakt, der sich dir unter die Haut schreibt.
Wow. Einfach nur wow.
»Hier aber, in dieser Insellosigkeit, in diesem Immermittendrinsein, im Binaritäts-Faschismus der Körpersprachen, sprechen meine Glieder ein Kauderwelsch, ein zerkautes Elfisch, ein zerbroken Dringlisch, ein in Wirrnis hin und her torkelndes Dazwischen und Damit. Ich weiß nicht, wie ich mich sonst formulieren könnte als: Ich weiß keine Sprache für meinen Körper.«
(Zitat)
Fazit
»Blutbuch« ist sprachlich oft wunderschön, manchmal geradezu poetisch, leise und nachdenklich. Dann wieder zieht Kim ungebremst und schamlos¹ alle Register: derb, frech, laut, explizit sexuell. Das ist radikale künstlerische Freiheit, und das feiere ich. So originell, so kraftvoll, im besten Sinne respektlos gegenüber eingefahrenen Strukturen. Burning down the patriarchy, und die binäre Geschlechterdoktrin gleich mit.
¹ Übrigens meine ich ‘schamlos’ keineswegs abwertend! Scham ist zwar etwas universell Menschliches, aber auch ein soziales Regulativ, allzu oft ein anerzogenes Mittel der Ächtung unerwünschter Lebensentwürfe oder sogar Identitäten.
»Blutbuch« hätte den Deutschen Buchpreis mehr als verdient. Ich werde bei der Preisverleihung im Publikum sitzen und die Daumen drücken!
“Blutbuch” ist das Patenbuch der Buchpreisbloggerin Luisa Kiel – itsaboutgoodbooks
Instagram: @itsaboutgoodbooks
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Titel | Blutbuch |
Originaltitel | — |
Autor(in) | Kim de l’Horizon |
Übersetzer(in) | — |
Verlag* | Dumont |
ISBN / ASIN | 978-3-8321-8208-3 (Hardcover) 978-3-8321-8260-1 (E-Book) |
Seitenzahl* | 336 |
Erschienen im* | Juli 2022 |
Genre* | Gegenwartsliteratur |
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches |
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