#Rezension Jan Faktor: Trottel

Jan Faktor: Trottel

© Cover ›Trottel‹: Kiepenheuer & Witsch
© Grafiken: A.M. Gottstein

Handlung

Im Mittelpunkt: ein eigensinniger Erzähler, Schriftsteller, gebürtiger Tscheche und begnadeter Trottel, und die Erinnerung an ein Leben, in dem immer alles anders kam, als gedacht. Und so durchzieht diesen Rückblick von Beginn an auch eine dunkle Spur: die des »engelhaften« Sohnes, der mit dreiunddreißig Jahren den Suizid wählen und dessen früher Tod alles aus den Angeln heben wird.

Ihren Anfang nimmt die Geschichte des Trottels dabei in Prag, nach dem sowjetischen Einmarsch. Auf den Rat einer Tante hin studiert der Jungtrottel Informatik, hält aber nicht lange durch. Dafür macht er erste groteske Erfahrungen mit der Liebe, langweilt sich in einem Büro für Lügenstatistiken und fährt schließlich Armeebrötchen aus. Nach einer denkwürdigen Begegnung mit der »Teutonenhorde«, zu der auch seine spätere Frau gehört, »emigriert« er nach Ostberlin, taucht ein in die schräge, politische Undergroundszene vom Prenzlauer Berg, gründet eine Familie, stattet seine besetzte Wohnung gegen alle Regeln der Kunst mit einer Badewanne aus, wundert sich über die »ideologisch morphinisierte« DDR, die Wende und entdeckt schließlich seine Leidenschaft für Rammstein.

(Klappentext)

Erzähldriftdrang

“Trottel” ist das erste Buchpreisbuch, das ich widerstrebend abgebrochen habe, nach 62%. Und das, obwohl “Trottel” definitiv ausbricht aus dem Althergebrachten, was ich normal sehr schätze! Das Feuilleton ist begeistert, ich jedoch… Nicht so sehr. War ich anfangs noch durchaus angetan von diesem lebensklugen, rotzfrech-intellektuellen Schelmenroman mit steter Rammsteinbeschallung, fühlte ich mich zunehmend ernüchtert. Zu ausufernd, ausschweifend, ausgreifend, außerordentlich aufzählungsverliebt, zu überbordend, übersteigert, überzogen … Auch die 262 Fußnoten sind zwar oft herrlich, bremsen den Lesefluss indes empfindlich aus.

Disclaimer: Meiner Meinung nach, aus meiner Sicht, für mein Dafürhalten, für mein Empfinden, für mein Gefühl, für meine Begriffe, in meinen Augen, meiner Ansicht nach, meines Ermessens, nach meinem Eindruck, nach meinem Verständnis, MMN, WDMF, XYZ, FKK.

»Erzähle ich zu viel Überflüssiges – oder sogar den reinen, unsauber randomisierten Unsinn? Das könnte der eine oder andere Begappte, Begrabbelte oder Graubegraulte vielleicht meinen. Dabei bremse ich mich – bei diesem konkreten Lab-Project auf jeden Fall – relativ brav und schreibe nur einen Bruchteil dessen auf, was mir so durch den Kopf geht.«

(Zitat)

Ermüdet lächelte ich über eigentlich grandiose Wortwitze und feinefiese Seitenhiebe, die in my humble opinion einfach untergehen im Gedankenstrom. Da werden manirierte Metapherngebilde vor den Leser:innen aufgebaut, die beeindruckend aussehen, aber für mich schlicht nicht tragfähig sind – eher Schaumgebilde aufgebauschter Bedeutung.

Zugegeben, ich vermute (und hoffe!), dass dahinter fein dosierte Absicht steckt, dass gerade diese Erzählweise karikiert werden soll. Faktor durchbricht solche Passagen mit unsinnig-unpassenden Einwürfen; da ist gerade noch die Rede von Newton und Integralen, dann von Samenabgängen und Schleim:

Prosaische Bruchlandungen

»Ich bin jedenfalls vorläufig der Meinung, dass ein Prosatext in seiner Funktionsweise grundsätzlich als ein Integral angesehen werden kann. Dementsprechend wären die ihn im Fluss (Newton!) tragenden kleinen Schritte, die typo- und erzähltopographischen Textmarker als energietragende miniamplitudenhafte Ausschläge zu betrachten … dabei wären allerdings alle nebensächlichen Störungen bei der Wundheilung, alle vorübergehenden Hautausschläge, Samenabgänge, die klebrig-fettigen Schweißschmierereien an der Gesichtsoberfläche oder die halbwegs getrockneten Absonderungsrückstände der Nasenschleimhäute zu vernachlässigen. Dies alles verschwindet doch glatt im großzügig-integralen Raum unter der Eleganz-, Effizient- und Exzellenzkurve der alles tragenden Emotionalität.«

(Kontext: Der Erzähler sucht nach einer Formel, mit der sich der Klang eines Textes definieren lässt)

Faktor ist auf jeden Fall ein Mensch, der viel erlebt und viel zu erzählen hat. Möglicherweise muss er die Passagen, die sich mit dem Selbstmord seines Sohnes befassen, abfedern mit schelmischem Gelaber, spielerischem Nonsense und doppeltem Boden. Möglicherweise ist das Tragische nur in Kombination mit dem ‘Trotteligen’ erträglich (und umgekehrt). Denn die Trauer, die trieft bei allem Humor geradezu aus den Seiten, ist das eine Element dieses Romans, das nie weniger als wahrhaftig ist. Hier liegt wohl des Trottels Kern.

Aber für mich funktionierte das nur bedingt, war die TTB¹ nicht hinreichend austariert.

¹ Trottel-Trauer-Balance

Wortbautechnologische Aufwertung

Hier und dort bringt der Autor wirklich großartige Ideen ein, wie zum Beispiel Anmerkungen des Lektorats – die er prompt ignoriert oder umgeht. Ob diese wirklich dem Lektorat entspringen oder literarisches trompe l’oeil sind, ist nebensächlich, sie eröffnen auf jeden Fall eine wunderbar amüsante, clevere Metaebene. Auch frei erfundene Buchtitel, wie “Die Partei und ihre akzeptanzsteigernden Maßnahmen für die primäre Disziplinakkumulation des Zappelproletariats” zusammenfantasierte Zitate, umgeschriebene Songtexte oder ins Nichts laufende Quellenangaben lasse ich mir gerne gefallen.

»Lebe dein Leben in Ekstase, sagte einmal überraschenderweise meine Großmutter zu mir. Dies ist mir zum Glück nicht möglich gewesen, jedenfalls nicht über einen längeren Zeitraum. Meine Großmutter hat es auch nie gesagt.«

(Zitat)

Ja, es gibt in diesem Roman tatsächlich einige Textabschnitte, die ich gefeiert habe. Manchmal, aber nur manchmal [FALSCHE BAND!], macht Faktors lustvolle Schwadroniererei einfach Spaß, genauso die Art, wie er sich selbst hemmungslos widerspricht – inhaltliche Ungereimtheiten sind hier Feature und kein Versehen. Und ja, er bietet hochinteressante, einmalige Einblicke in die Lebenswirklichkeit im Ostblock (genauer gesagt Tschechien und DDR) der 70er und 80er, in das sozialistische Gesellschaftsmodell und seine Fallstricke. Die Frage, ob “Trottel” verwurzelt ist im realsozialistischen Skurrilismus, ist daher durchaus berechtigt.

Faktors Erzählweise lenkt die Aufmerksamkeit der Leser:innen mit purer Fabulierlust auf das erzählerische WIE. Das erzählte WAS, die wichtigen, sozialgeschichtlich relevanten Inhalte werden meines Erachtens allzu oft übertüncht vom schieren Chaos: Metaphorisierung, Neologismen, Wortakrobatik, Albernheiten, Fußnoten, Fußnoten, Fußnoten … Nur die Trauer, die bricht sich immer mal wieder Bahn, sticht klar heraus.

Fazit

Bird DKP

Unterm Strich fühlte ich mich an den Rand meines Lesewillens gebracht und darüber hinaus. Ich wollte das Buch lieben. Ich wollte es feiern. Ich wollte anerkennend nicken ob der Art und Weise, wie Faktor genüsslich seine Leser:innen herausfordert, mit Neologismen und Wortspielereien in die Irre führt und dahinter doch echten Tiefgang versteckt.

Aber es erschien mir, als habe er das den entscheidenden Schritt zu weit getrieben. Die endlosen Ausschweifungen und die vielen übertrieben intellektuellen Wortgeflechte wirkten auf mich letztendlich zu bemüht, zu überstrapaziert, das schlägt immer wieder und wieder in die gleiche Kerbe – und für mich dadurch das Gesamtkonzept kurz und klein.

Disclaimer: Meiner Meinung nach, aus meiner Sicht, für… Ach, siehe oben.

Rezensionen zu diesem Buch bei anderen Blogs

Sören Heim
the little queer review
Die Bücherkiste

Empfehlungen aus dem gleichen Genre

Jochen Schmidt: Phlox
Saša Stanišić: Herkunft
Carl-Christian Elze: Freudenberg

TitelTrottel
Originaltitel
Autor(in)Jan Faktor
Übersetzer(in)
Verlag*Kiepenheuer & Witsch
ISBN / ASIN978-3-462-00085-6 (Hardcover)
Seitenzahl*400
Erschienen im*September 2022
Genre*Gegenwartsliteratur
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
Die folgenden Links kennzeichne ich gemäß § 2 Nr. 5 TMG als Werbung :

Das Buch auf der Seite des Verlags
Das eBook auf der Seite des Verlags

signature (Leider musste ich die Kommentarfunktion auf WordPress
wegen massivem Spam und Botattacken ausstellen!)