#Rezension Ian McEwan: Lektionen

Buchcover Ian McEwan Lessons, Bild eines klavierspielenden Jungen in kräftigen, nicht realistischen Farben

Englische Flaggen

Ich habe dieses Buch auf Englisch gelesen und kann daher natürlich nicht auf die Qualität der deutschen Übersetzung eingehen. Daher bitte ich darum, meine Rezension davon losgelöst zu betrachten.

Titel der Originalausgabe: Lessons
Übersetzung von: Bernhard Robben
Verlag der dtsch. Ausgabe: Diogenes
Verlag des Originals: Knopf Publishing Group

Handlung

Roland Baines ist noch ein Kind, als er 1959 im Internat der Person begegnet, die sein Leben aus der Bahn werfen wird: der Klavierlehrerin Miriam Cornell. Roland ist junger Vater, als seine deutsche Frau Alissa ihn und das vier Monate alte Baby verlässt. Es ist das Jahr 1986. Während die Welt sich wegen Tschernobyl sorgt, beginnt Roland, nach Antworten zu suchen, zu seiner Herkunft, seinem rastlosen Leben und all dem, was Alissa von ihm fortgetrieben hat.

(Klappentext)

Was prägt uns?

Wie alles anfing

Zu Beginn des Buches lernen wir den 11-jährigen Roland Baines als sehr sensibles Kind kennen, das dem Leben im britischen Jungsinternat bang entgegensieht. Obwohl die schlimmsten Ängste sich als unbegründet erweisen, fühlt er sich zunächst entwurzelt. Und da kommt diese Klavierlehrerin daher und quält ihn mit fiesen Kniffen und herabwürdigender Sprache, verunsichert ihn mit übergriffigen Berührungen, gibt ihm aber gleichzeitig das Gefühl, dies alles machte ihn zu etwas Besonderem. Das fällt auf fruchtbaren Boden – ein Kind wie Roland, das sich nach einer Veränderung haltlos fühlt, lässt sich von Erwachsenen sehr leicht zum Opfer machen.

Wenige Jahre später wird aus diesem verstörenden Innuendo mehr; Miriam nutzt die ganz normalen sexuellen Neigungen eines Kindes aus und pervertiert sie, überschreitet alle Grenzen des Rechts und der Moral.

Wie es die Weichen stellt

Das prägt Roland fürs ganze Leben, zieht sich unterschwellig durch die Jahrzehnte. An seiner zwanghaften Hypersexualität scheitern Beziehungen; tiefsitzende Rastlosigkeit und Entscheidungsunfähigkeit führen zu einem Leben, das zwar überaus ereignisreich verläuft – und das von McEwan komplett auserzählt wird –, in dem Rolands außergewöhnliche Talente jedoch nie voll zum Erblühen kommen. Nur die Vaterschaft, die gelingt ihm ganz ohne Zweifel, indem er seinem Sohn immer mit Respekt und Wertschätzung begegnet.

Man könnte Roland als gescheiterte Existenz bezeichnen, und dennoch, dennoch … Er hat viel erlebt, ist Zeitzeuge von Ereignissen geworden, die in Geschichtsbüchern weitergetragen werden. Lässt sich der Wert seines Lebens wirklich am Erfolg messen, an der Karriere? Ist ein scheinbar unbedeutendes, unspektakuläres Leben nicht lebenswert? Im Literarischen Quartett am 14.10.2022 nannte Thea Dorn ihn »eine Figur, die sich selber staunend bei der Katastrophe namens Leben zuguckt«, und das trifft es für mein Empfinden sehr gut.

[Link] Die Sendung des Literarischen Quartetts

Träume und Traumata

McEwan stellt die Innenleben seiner Charakter so prägnant wie feinfühlig dar, mit viel Gespür für die Zwischentöne, das zutiefst in der persönlichen Geschichte Verwurzelte. Dabei verfällt er meines Erachtens nie in Kitsch oder abgedroschene Allgemeinplätze; er zeichnet mit fein dosierten Worten ein sehr dichtes, differenziertes Bild. Dieser Roman ist so autobiographisch geprägt wie kein anderer seiner Romane zuvor, bleibt aber nichtsdestotrotz innerhalb der Grenzen der Autofiktion.

»Ich empfinde eine heimliche Bewunderung und gleichzeitig ein Misstrauen gegenüber Autoren, die ihr Leben endlos ausplündern. (…) Aber dieses Mal dachte ich, ich nehme mir meine gesamte Existenz und verpacke sie in eine Fiktion.«

(Aus einem Interview mit Ian McEwan, übersetzt)

Allenfalls könnte man dem Roman vorwerfen, dass er sich allzu ausschweifend treiben lässt durch die Zeitläufe der Geschichte, mit einem Helden, der dazu neigt, passiv zu erdulden, statt aktiv anzupacken. Ich kenne Leser:innen, die Rolands Gleichmut unsäglich störte, für mich persönlich las es sich indes wie aus einem Guss. Denn Roland mag der Fix- und Angelpunkt des Romans sein, um ihn herum tobt jedoch das wunderbare, schreckliche Chaos des Lebens, das McEwan so gekonnt in Worte fasst.

Patriarchalische Verwerfungen im Lebenslauf

Obwohl Roland ohne Zweifel der Schlüsselcharakter ist, gibt McEwan auch den Frauen in seinem Leben viel Raum, was einen feministisch geprägten Themenkomplex eröffnet. Immer wieder geht es um weibliche Selbstbehauptung und weibliche Fremdbestimmung im Laufe der Zeit, insbesondere im Kontext der traditionellen Rolle der Mutterschaft – weibliche Entwicklung als Auflehnung gegen die gesellschaftlichen Erwartungen.

Da ist Alissa, die Ehefrau, die Roland mit dem kleinen Sohn sitzenlässt, um ungestört schreiben zu können – was die üblichen Geschlechterrollen umgekehrt! –, und schon mit dem Debütroman zur literarischen Sensation wird. Da ist Jane, Alissas Mutter, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Journalistin mit der Weißen Rose auseinandersetzt, deren eigene literarische Ambitionen mit der Mutterschaft indes jäh zum Erliegen kommen. Da ist Rosalind, die Großmutter, die bis ins hohe Alter ein Geheimnis mit sich trägt, das sie über viele Jahrzehnte hinweg gequält haben muss – auch hier wieder: Mutterschaft als Sollbruchstelle der weiblichen Selbstbestimmung.

Vom Größten ins Kleinste: Weltereignisse und private Verletzungen

Tschernobyl, Kubakrise, sexueller Missbrauch, das Leben im Internat, die Weiße Rose, der Mauerfall, Brexit: McEwan greift viele Themen auf, persönliche wie zeitgeschichtliche, und jedes davon stellt die ureigene Entwicklung eines oder mehrere der Charaktere in den Fokus – die Ziele, die Konflikte mit dem Status Quo oder die Auflehnung dagegen, die Sackgassen und Abwege. Was macht das mit den Charakteren? Was sagt das aus über sie? Die Art, wie der Autor die Wechselwirkung zwischen politischen Ereignissen und intimstem individuellem Leben darstellt, ist in meinen Augen eine echte Kunst.

Fazit

Lieblingsbuch

McEwan bettet die Romanhandlung differenziert und überzeugend in die Zeitgeschichte ein, verliert die persönliche Entwicklung seiner Charaktere dabei aber nie aus dem Blick. Er verwendet Versatzstücke seines eigenen Lebenslaufes, ohne die Grenze zur Autofiktion zu überschreiten. Der Roman liest sich im besten Sinne wie ein Alterswerk, stilistisch und inhaltlich gereift wie ein guter Wein.

Die Schwere mancher angesprochenen Themen weicht immer wieder einer versöhnlichen Leichtigkeit, und diese Mischung macht aus »Lektionen« in meinen Augen einen unterhaltsamen Schmöker mit Tiefgang.

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