#Rezension David Misch: Schatten über den Brettern

David Misch: Schatten über den Brettern

© Cover ‘Schatten über den Brettern’: duotincta
© Bild Smartphone: Pixabay

Handlung

Ein Theaterspieler in Zeiten zunehmender Repression. Er ist hin- und hergerissen zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und dem Streben nach Selbstverwirklichung. Seine Figuren und Rollen, die er nicht spielen muss, weil sie in ihm zur Realität geworden sind, bedeuten ihm alles. Eine Kulturverordnung droht sie ihm zu nehmen und der Kampf gegen die neue Autorität im Lande stellt Beziehungen und eigenes Ich mehr denn je in Frage.

In seinem ersten Roman beschwört David Misch eine abgrundtief böse Macht herauf, die aus der Mitte einer Gesellschaft entsteht, in der Reflexionsvermögen und mahnende Erinnerungen schwinden. Eine konkrete Dystopie: Prinzip Warnung.

(Klappentext)

Hinweis

Ich habe diesen Roman als Jurymitglied für den Buchpreis “Das Debüt” gelesen, wo “Schatten über den Brettern” als einer von fünf Finalisten auf der Shortlist stand.

Link: Webseite des Preises
Link: Mein Blog ist dabei!
Link: Die Shortlist

Oh, was habe ich mich erst schwergetan mit diesem Buch.

Die Handlung erschien mir konfus, die Charaktere schwer zu greifen, aber es war vor allem die Sprache, die ihre Widerhaken schmerzhaft in mein Gehirn schlug. Mein Widerwille wuchs: Anstrengend. Sperrig. Von Sprachfluss keine Rede, jeder Schachtelsatz ein Staudamm. Ich schob die Worte vor mir her wie Sisyphos seinen Felsen.

Wann genau sich das änderte, kann ich gar nicht sagen. Nach fünfzig Seiten, sechzig Seiten vielleicht? Aber was mir eben noch als klarer Anwärter auf den letzten Platz erschien, erwies sich danach zu meinem Erstaunen als Anwärter aufs Siegertreppchen.

Wo soll ich anfangen?

Dieser Debütroman ist: anspruchsvoll, düster, komplex, vielschichtig, intelligent, originell. Die Genregrenzen verschwimmen, und auch die Realität ist hier ein sehr fluides Konzept. Sie wird immer wieder hinterfragt, auf den Kopf gestellt, ad absurdum geführt, spiegelt sich wie in einem Spiegelkabinett in sich selbst sich selbst sich selbst… Wenn man beginnt zu lesen, sind die großen Wendungen schon längst passiert, man erkennt sie nur noch nicht.

Es gibt keine Namen, nur “Ich”, “Du” und “ER” – ja, letzterer wird grundsätzlich in Großbuchstaben erwähnt, und die Bedeutung dessen begreift man in dem Moment, in dem man… Nein, das verrate ich jetzt lieber nicht. Sagen wir mal so, der Aha-Moment kam mit einem Paukenschlag und ich fühlte mich, als hätte es mir jäh den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich saß da, sicher mit offenem Mund, und sah vor dem inneren Auge all die Szenen vorbeiziehen, die auf einmal so viel Sinn ergaben.

Ich konnte kaum glauben, dass ich eine Wendung dieser Größenordnung nicht hatte kommen sehen.

Ach, was heißt “kommen sehen” – sie hatte ja schon einige Kapitel geradezu vor mir gesteppt, mit Pompons, ohne dass ich sie erkannt hätte. War ich vielleicht nur schwer von Begriff? Möglicherweise. Aber ich möchte gerne glauben, dass David Misch das Ganze einfach gekonnt orchestriert hatte.

Als ich das Buch beendete, hatte ich mit der Sprache schon lange meinen Frieden gemacht. Jetzt, wo ich die Charaktere kannte, erschien sie mir genau richtig, als könne sie gar nicht anders sein – mit all ihren Schachtelsätzen und dem gelegentlich etwas beschwerlichen Stil.

Es fängt an mit einem alten Mann (“Ich”) auf einer Parkbank.

Dann gibt es da noch das Mädchen (“Du”), das sich manchmal zu ihm setzt und vielleicht seine Tochter ist, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls erzählt er ihr aus seinem Leben, vor allem darüber, wie er als Schauspieler seine Kunst erlebte – und später die zunehmende Unterdrückung durch ein aufsteigendes autoritäres Regime. Kunst und Kultur wurden reglementiert, Geschichte als Schulfach gestrichen, freies Denken in Ketten gelegt.

Man gewinnt den Eindruck: das ist lange her. Das Mädchen kennt die Welt schon gar nicht mehr anders, und gerade deswegen erreicht sie schnell den Punkt, an dem die Worte des Alten ihr erscheinen wie Blasphemie. Ich schüttelte den Kopf, und doch erschien es mir nicht unglaubwürdig, dass es dazu kommen könnte.

Unterbrochen werden die Erinnerungen des alten Mannes immer wieder durch Passagen aus dem Leben des ominösen “ER”. Und die lesen sich wie ein luzider Fiebertraum, wie die Manifestation des in der Gesellschaft aufsteigenden Bösen. Über IHN will ich noch gar nichts verraten, das sollte jede:r Leser:in für sich selbst erleben.

Wo genau das spielt und wann, das wird nur angedeutet. Hitler wirft seinen Schatten auf die Geschehnisse, aber dieses unbenannte Land hat sich schon lange einen neuen Nachtmahr gezüchtet. Das Zeitempfinden kippt beim Lesen immer wieder, die Geschichte taumelt in einem hypnotischen Strudel voran.

Die Bretter, die die Welt bedeuten

Die Passagen, in denen Mischs Protagonist über das Theater spricht, sind für mich mit die interessantesten des Buches. Es geht hier nicht um klassisches Theater, sondern um freiere dramatische Formen mit mehr Improvisation, wie das oft erwähnte “Theater der Unterdrückten” von Augusto Boal. Das Publikum wird eingebunden, die Schauspieler spielen nicht auf Grundlage eines starren Skripts, sondern lassen die Charaktere sich auf der Bühne weiterentwickeln.

Der Protagonist hat eine Reihe von Charakteren, die für ihn geradezu multiple Persönlichkeiten geworden sind. Sie sind ein Teil von ihm, er kann nicht mehr ohne sie sein; er lebt dafür, ihnen auf den Bühnenbrettern Realität einzuhauchen. Sie sind wichtiger als seine Arbeit, wichtiger als seine Ehe, sogar wichtiger als sein Kind, doch dann beschneidet das Regime erlaubte Formen des Theaters…

Im Kontrast zur grenzenlosen Freiheit dieser Theaterform tritt die Unmenschlichkeit des Regimes umso deutlicher hervor – einen wirkungsvolleren Kontrapunkt hätte der Autor meines Erachtens kaum finden können.

Fazit

Schöner Wegbegleiter

Ein alter Mann (“Ich”) erzählt aus einem Leben als freier Schauspieler zu einer Zeit, als das bestehende faschistoide Regime die Macht übernahm. Seine Zuhörerin (“Du”) ist zu jung, um sich an die Welt davor zu erinnern, und fühlt sich gleichzeitig fasziniert und von der scheinbaren Blasphemie seiner Ansichten abgestoßen. Als dritte Präsenz tritt ein unheilvoller “ER” auf, den man als Leser lange nicht in diese Figurenkonstellation einordnen kann.

Ich habe mich am Anfang unendlich schwer mit diesem Roman getan, vor allem mit der Sprache, die mir sehr sperrig erschien. Doch nachdem ich mich eingelesen hatte, war ich immer beeindruckter von der Originalität und dem gelungenen Spiel von Schein und Realität. Mit ein paar Wendungen hat David Misch mich eiskalt erwischt, die hatte ich gründlich fehlinterpretiert – ein Grund, das Buch noch ein zweites Mal zu lesen.

Rezensionen zu diesem Buch bei anderen Blogs

Leckere Kekse
Literaturgeflüster
schiefgelesen
Literatopia
@miss_lia48
Lesen macht glücklich
@patrick1166l
Frau Pastell

Empfehlungen aus dem gleichen Genre

Simon Sailer: Die Schrift
Helene Bukowski: Milchzähne
Karen Köhler: Miroloi

TitelSchatten über den Brettern
Originaltitel
Autor(in)David Misch
Übersetzer(in)
Verlag*duotincta
ISBN / ASIN9783946086543
Seitenzahl*298
Erschienen im*März 2020
Genre*Gegenwartliteratur / Dystopie
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
Die folgenden Links kennzeichne ich gemäß § 2 Nr. 5 TMG als Werbung :

Das Buch auf der Seite des Verlags

signature (Leider musste ich die Kommentarfunktion auf WordPress
wegen massivem Spam und Botattacken ausstellen!)