© Cover ‘Eurotrash’: Kiepenheuer & Witsch
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Handlung
»Also, ich musste wieder auf ein paar Tage nach Zürich. Es war ganz schrecklich. Aus Nervosität darüber hatte ich mich das gesamte verlängerte Wochenende über so unwohl gefühlt, dass ich unter starker Verstopfung litt. Dazu muss ich sagen, dass ich vor einem Vierteljahrhundert eine Geschichte geschrieben hatte, die ich aus irgendeinem Grund, der mir nun nicht mehr einfällt, ›Faserland‹ genannt hatte. Es endet in Zürich, sozusagen auf dem Zürichsee, relativ traumatisch.«
(Klappentext)
Dieser Roman tat es mir schwer.
Zugegeben, das muss ich direkt relativieren: Es gibt durchaus unterhaltsame, scharfsinnige und gekonnt provozierende Momente, und auch solche, in denen die Geschichte eine scharfsichtige Prägnanz entwickelt. Doch mein verflixtes Bauchgefühl sagt: Aber. Aber was? Aber nein. Aha. Nein also. Aber nein warum?
Fangen wir mal bei der Familie des Autors/Protagonisten an.
Jetzt könnte ich wieder Tolstoi bemühen. „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ Denn diese Familie ist kaputt, marode, unter dem schönen Schein verrottet – und dabei doch hervorragend vernetzte Oberschicht. Das hat viel Potenzial für prägnante Gesellschaftskritik oder auch nur für eine prägnante Abrechnung mit der eigenen Kindheit! Stattdessen fühlte ich mich erst von der schieren Anzahl der Themen erschlagen, dann ernüchtert.
»Weißt Du, was das ist? Ein Armutszeugnis ist das.«
Da kommt alles zusammen: überzeugter Nationalsozialismus, sexueller Missbrauch, Alkoholismus und Medikamentensucht, Sadomasochismus, Wohlstandsverdruss und übersättigtes Ennui – da wird Geld in absurden Summen wahllos verschenkt, einfach so, ohne echten Grund und ohne echte Wohltätigkeit. Nur weil es mal etwas anderes ist, wenigstens kurzfristig vom eigenen Stumpfsinn ablenkt. Die lächerliche Dekadenz wird dabei nur nebenher und nur vage anerkannt, zu sehr ekelt man sich anscheinend vor der eigenen Lebensmüdigkeit.
Dazu kommt ein gewisses Namedropping – hier und dort hat der Protagonist/Autor oder ein Mitglied seiner Familie diesen oder jenen Prominenten der Bildungselite getroffen, sich ganz selbstverständlich in dessen Kreisen bewegt. Und? Warum ist das bedeutsam, was soll es mir sagen? Was immer der Autor damit beabsichtigt, in mir erweckte es dein Eindruck einer zermürbend selbstbezüglichen Banalität.
»Das ist mein blind- und leer- und totgeweintes Jahrhundert.«
Der Kern der Geschichte ist die gestörte Mutter-Sohn-Beziehung, die gleichzeitig als Liebeserklärung und Abrechnung erzählt wird. Da kommen zwei Menschen zusammen, die anscheinend schon lange verlernt haben, liebevoll miteinander umzugehen, und daher eher widerwillig versuchen, wieder zueinander zu finden. Die Dialoge in diesem Themenkomplex sind großartig geschrieben, bringen die Dinge in einer ganz eigenen Sprachmelodie auf den Punkt – dennoch sagen gerade die Leerstellen und die Momente des Schweigens mehr aus als jede Beschreibung.
Dieses Element des Romans wirkt auf mich zwar erschütternd authentisch, für mein Empfinden wird es indes unter Belanglosigkeiten geradezu verschüttet.
“Solche Sachen solltest Du mal schreiben, wie Marcel Beyer. Das ist ein guter Schriftsteller. Nicht so einen belanglosen Unsinn, wie Du ihn schreibst, den ohnehin keiner lesen will.”
Die Mutter über die Literatur ihres Sohnes
Fazit
Christian Kracht, Autor und Hauptfigur dieses autofiktionalen Romans, setzt sich desillusioniert und schonungslos mit seiner Familiengeschichte auseinander, während er mit seiner sterbenskranken Mutter, die scheinbar von Pillen und Wodka lebt, auf eine wahllose Reise geht. Vielleicht nach Afrika, vielleicht aber auch nur mit dem Taxi durch die Schweiz. Jedenfalls lässt es genug Zeit und Raum, angestaubte Scheuklappen endlich abzunehmen und Tacheles zu reden. Die Dialoge zwischen Mutter und Sohn sind für mich das Highlight des Buches.
Interessant fand ich das Spiel mit Dichtung und biografischer Wahrheit: Inwiefern Autor und Protagonist deckungsgleich sind, ob die Erzählfiguren ihren realen Vorbildern entsprechen, das kann man als Leser:in nur erahnen. Aber davon abgesehen konnte der Roman mich im Endeffekt nicht vollends überzeugen, blieb mir in vielem zu wahllos, beliebig und unbestimmt. Denn zu viel der Handlung dreht sich im Umfeld der Familie im Kreis: Man ist reich, man ist gebildet, man ist gelangweilt. Da können nicht mal Nazivergangenheit und Sadomasochismus die Geschichte aus dem Trott reißen.
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Titel | Eurotrash |
Originaltitel | — |
Autor(in) | Christian Kracht |
Übersetzer(in) | — |
Verlag* | Kiepenheuer & Witsch |
ISBN / ASIN | 978-3-462-05083-7 (Hardcover) 978-3-462-32125-8 (eBook) |
Seitenzahl* | 224 |
Erschienen im* | März 2021 |
Genre* | Gegenwartsliteratur |
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