#Rezension Carole Fives: Kleine Fluchten

Carole Fives: Kleine Fluchten

© Cover ‘Kleine Fluchten’: Hanser Literaturverlage
© Bild eBook-Reader: Pixabay

Gehen, einfach nur gehen. Nur einmal kurz um den Block.

Die namenlose Protagonistin ist heillos überforderte Mutter eines Kleinkindes, hat keine Familie und kein soziales Netz, das sie auffangen könnte. Der Vater hat sich abgesetzt, sie klammert sich jedoch noch an die schale Hoffnung, er würde zurückkommen. Hätte er sonst nicht mehr eingepackt, alles eingepackt? Sicher will er doch irgendwann wenigstens seinen Sohn sehen! Bei diesem hält sie die Erinnerung an den Vater aufrecht, indem sie baldige Besuche verspricht.

Doch sie ist allein: mit sich, der Erinnerung, der Hoffnung, der Verzweiflung. Gleichzeitig hat sie bei aller Einsamkeit und Isolation doch seit zwei Jahren keine Minute mehr für sich.

»Zu mir, zu mir!«

Sie versucht, ihrem ständig fordernden Kind genug Zeit abzutrotzen, um als selbständige Grafikerin arbeiten zu können, und sieht sich von allen Seiten harschen Urteilen ausgesetzt. Nachbar:innen, Ämter, Ärzt:innen, alle lassen mehr oder weniger deutlich anklingen: »Das ist doch alles nicht so schwierig, wie Sie das darstellen, Sie müssen sich nur besser organisieren!« Aber wie? Krippenplatz – Fehlanzeige. Der Versuch, sich mit der Nachbarin zusammenzutun, die ebenfalls ein kleines Kind hat – Fehlanzeige. Der gesellschaftliche Druck ist enorm, und das Geld geht aus. Und je weniger Sozialkontakte das Kind hat, desto heftiger klammert es sich an die Mutter, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.

Drei, vier Mal pro Nacht rief es nach ihr. Es konnte nur wieder einschlafen, wenn sie bei ihm war, »zu mir, zu mir«, bettelte es. Nichts half, weder Streicheln noch beruhigende Worte, das Kind wachte bekümmert auf, verstört, seltsam, und es war ihre eigene Angst, die in seiner kleinen Stimmte mitschwang.

In letzter Not sucht sie ausgerechnet im Internet nach Trost und Rat (selten eine gute Idee), und findet dort nur selbsternannte Supermütter, die selbstfraulich eine heile Welt vorspiegeln, in der echte Mutterliebe alles richten kann. Da schwingt deutlich mit: Und wenn du das nicht schaffst, dann ist deine Mutterliebe auch nicht echt, du schreckliche Egoistin.

Wanderin, die du hier eintrittst…

Die wenigen Frauen (meist Single-Mütter wie die Protagonistin), die es wagen, sich mit Ängsten und Sorgen und echter Pein an diese Mütterforen zu wenden, werden genüsslich abgekanzelt als Rabenmütter. Wie kann frau es nur wagen, sich über das goldige Engelchen zu beklagen, wenn sich doch so viele Frauen vergeblich nach Nachwuchs sehnen! Selbstdarstellung, Filterblasen, die totale Abwesenheit von echter Solidarität – das ist die hässliche Seite der sozialen Medien in Reinkultur. Da wagt die Protagonistin es gar nicht mehr, selber etwas zu schreiben, sondern liest nur in stummer Ernüchterung mit.

Die Autorin zeichnet ein bedrückendes Bild, in dem strauchelnde Mütter, die dringend Unterstützung bräuchten, überall nur niedergemacht oder bestenfalls mit freundlichen Plattitüden abgefrühstückt werden. Nach den Vätern fragt keiner, die werden nicht zur Verantwortung gezogen. Das liest sich schmerzhaft authentisch, da würde die Leserin sich am liebsten die Augen zuhalten. Denn sie fragt sich: wie lange kann die Protagonistin das noch aushalten? Hier stimmt doch was nicht! Wie kann das soziale Netz nur so viele Löcher haben? Wie kann die Gesellschaft nur so bigott auf eine Frau reagieren, die beides sein will – MUSS! –, Mutter und berufstätig?

Warum sieht das denn keiner?!

Eigentlich ist es fünf nach zwölf. Denn die Protagonistin ertappt sich schon beim Gedanken, dem schlafenden Kleinen die Decke übers Gesicht zu legen, in der Hoffnung, er würde dann langsam ersticken, ohne überhaupt etwas davon mitzukriegen. Ein Gnadentod – aber Gnade für wen? Sie erschrickt vor sich selbst. Lieber flieht sie nachts kurz aus dem Haus. Nur für ein paar Minuten, sie kennt ja die kurzen Zeitspannen, in denen das Kind normalerweise nicht aufwacht. Nur mal fix Luft schnappen und dann direkt wieder rein. Aber jedes Mal bleibt sie ein wenig länger draußen, weil sie drinnen nicht mehr atmen kann.

Sie war müde, war erschöpft von diesem Wesen, das sie erfunden hatte und das von A bis Z erfunden war: die gute Mutter. In solchen Momenten war ihre Lust zu fliehen vermutlich am größten. Dann, wenn sie merkte, dass sie diese eine Rolle nicht mehr ertrug, in der sie sich so eingeengt fühlte, dass sie in einen Film geraten war, dessen Anfang sie offenbar verpasst hatte, und in dem sie sich als Statistin empfand.

So authentisch sich das liest, so sehr bleibt letztendlich alles in der Luft hängen. Als würde die Protagonistin tatsächlich in einer Blase leben, und niemand von außerhalb könne sie wirklich wahrnehmen. Als wäre das Kind nur ein Albtraum in Endlosschleife. Die Elemente einer gelungenen Geschichte sind alle vorhanden, als seien sie nach Schreibratgeber geschrieben: das auslösende Ereignis (die Flucht des Vaters), die steigende Komplikation (Geldmangel und zunehmende psychische Probleme), die beste schlechteste Wahl (die Entscheidung, nachts regelmäßig das Haus zu verlassen) …

Aber der Höhepunkt ist gleichzeitig Paukenschlag und Apathie.

Die Auflösung lässt für mein Empfinden zu viel offen; ich blieb im Endeffekt mit dem Gefühl zurück, eine kurze Dokumentation über das schwere Los von Single-Müttern angeschaut zu haben. Möglicherweise hätte die Handlung wenigstens einen weiteren erwachsenen Charakter gebraucht, der nicht nur Platzhalter ist, nicht nur Personifizierung der mangelnden Hilfe. Ein Spiegel, in dem die Protagonistin sich schärfer umrissen wahrnehmen und dies damit auch Leser:innen ermöglichen könnte. Denn sie ist im Grunde wenig mehr als ein Sinnbild, personifizierte Seelennot.

Doch ich muss zugeben, dass dies höchstwahrscheinlich ein wohlkalkuliertes Stilmittel ist. Bis auf eine Nennung des Nachnamens gegen Ende bleibt die Protagonistin namenlos, was mich vermuten lässt, dass diese Unbestimmtheit ausdrücken soll: Jede Singlemutter könnte diese Frau sein. Für mich funktioniert das zwar auf intellektueller Ebene, auf persönlicher Ebene hätte ich mir trotzdem mehr emotionale Verbundenheit mit der Hauptfigur gewünscht.

Die Autorin bringt die Problematik auf den (Brenn-)Punkt, bis die Katastrophe unausweichlich scheint, belässt es meines Erachtens aber genau bei dieser Fokussierung gesellschaftskritischer Fragen. Ja, sie erreicht mit ihren meist klaren, ungeschönten Worten echte Betroffenheit; das Buch hallt nach, und vielleicht soll es mehr gar nicht sein als eine Brandmarkung der Zustände, ein Aufrütteln: hier besteht Handlungsbedarf. Es mag sein, dass das unstete Ende nur noch deutlicher machen soll, wie verfahren das alles ist, als wie ausweglos die Protagonistin es wahrnimmt. Darin ist es ohne Zweifel erfolgreich.

Meine vage Unzufriedenheit mit dem Ende soll aber nicht bedeuten, dass ich “Kleine Fluchten” für ein Buch halte, das es nicht wert ist, gelesen zu werden. Denn dass ich seit einiger Zeit darüber das Gelesene nachdenke, ist schon ein sicheres Zeichen dafür, dass es die wichtigste Anforderung für einen lohnenden Roman erfüllt: die Axt zu sein für das gefrorene Meer in uns, wie Kafka das formuliert hat.

Fazit

Gern gelesen

Die namenlose Protagonistin hat einen zweijährigen Sohn, der Vater hat sich sang- und klanglos davongemacht. Seit zwei Jahren erlebt sie ihre Single-Mutterschaft als persönliche Hölle: keine Hilfe vom Amt oder von den Nachbar:innen; Geldnöte, weil sie für den Kleinen keinen Krippenplatz bekommt und sich daher den ganzen Tag um ihn kümmern muss, sodass ihr keine Zeit zum Arbeiten bleibt; nie einen Moment für sich. Dafür gibt es abschätzige Urteile von allen Seiten, weil sie ihre Mutterschaft “nicht in den Griff bekommt” – dabei ist das doch soooo einfach, wenn man es richtig anstellt. Sie sucht Hilfe im Internet, stellt aber schnell fest, dass Mütter wie sie, die die Mutterschaft nicht als Glückseligkeit preisen, sondern verzweifelt sind, dort als Rabenmütter vorverurteilt werden.

Um nicht durchzudrehen, um wenigstens einmal durchatmen zu können, lässt sie das Kind kurz allein, als es schläft, und geht zum Luftschnappen nach draußen. Das gelingt problemlos, daher tut sie es am nächsten Tag wieder. Und dann wieder und immer wieder, doch jedes Mal bleibt sie länger draußen, wagt sich weiter vor, fühlt sich endlich mal wieder als Frau und nicht nur als Verlängerung ihres Kindes. Doch die Leserin bangt: Kann das auf Dauer gut gehen?

Carole Fives fasst die Verzweiflung einer Mutter, die durch die Maschen aller Netze fällt, sehr eindringlich in Worte, das schmerzt beim Lesen. Die Bigotterie einer Gesellschaft, die Single-Mütter verurteilt, aber die Väter nicht zur Rechenschaft zieht; die Scheinheiligkeit von Frauen, die anderen Frauen hämisch in den Rücken fallen, um sich für ihre eigene perfekte Mutterschaft zu feiern, das wird alles nur allzu deutlich. Das fand ich durchaus sehr gelungen und ich habe das Buch auch gerne gelesen, nur das Ende hat mich persönlich nicht ganz abgeholt.

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TitelKleine Fluchten
OriginaltitelTenir jusqu’à l’aube
Autor(in)Carole Fives
Übersetzer(in)Anne Braun
Verlag*Hanser Literaturverlage
ISBN / ASIN978-3-552-07226-8 (Hardcover)
978-3-552-07238-1 (eBook)
Seitenzahl*144
Erschienen im*März 2021
Genre*Gegenwartsliteratur
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
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