[ Lesegelaber ] Über das soziale Lesen

Social Reading Soziales Lesen

Dieser Artikel erschien zunächst im März 2017 auf meinem ersten Buchblog auf Blogspot.

Es gibt die verschiedensten Definitionen für den Begriff “sozial”, und im Zeitalter der sozialen Medien hat sich die Bandbreite der möglichen Bedeutungen noch einmal gravierend erweitert. Worum es mir in diesem Artikel geht, ist “sozial” im Sinne von Vernetzung, Austausch, Kommunikation innerhalb einer Gemeinschaft – nämlich der der Lesenden.

Der Leser, das gesellige Wesen?

Eigentlich sollte man meinen, dass Lesen nicht unbedingt ein Hobby ist, das die genannten Dinge fördert – im Grunde sitzt doch jeder alleine vor seinem Buch. Aber tatsächlich ist der Mensch nun mal ein soziales Wesen, das immer Mittel und Wege findet, auch die noch so einsamste Beschäftigung in die Gruppe zu tragen, der er sich zugehörig fühlt.

In jenem dunklen, barbarischen Zeitalter, das junge Lesende nur noch aus Erzählungen kennen – nämlich die Zeit vor Internet und Smartphone – war man gezwungen, zu drastischen Mitteln zu greifen, sofern man nicht mit lesenden Verwandten oder Freunden gesegnet war:

Man musste das Haus verlassen oder andere Menschen zu sich nachhause einladen.

Das nannte sich dann Lesekränzchen, und zumeist bestanden diese (so will es das Klischee) aus gebildeten Damen, die bei einer Tasse Tee oder bewaffnet mit Stricknadeln (oder beides) über erbauliche Lektüre plauderten. Auch heutzutage gibt es natürlich noch Lesekränzchen, die aber meist die altmodische Bezeichnung abgelegt haben und sich stattdessen Lesezirkel oder Lesekreis nennen.

Was das antike und das moderne Lesekränzchen gemeinsam haben, sind in meinen Augen diese Dinge:

  • Kommunikation, Vernetzung und Austausch sind auf wenige Personen begrenzt. Das Lesekränzchen ist sozusagen ein kleiner Teich, in den die Teilnehmer kleine Steinchen werfen: die Wellen schwappen nicht über auf andere Teiche oder gar den Ozean. 
  • Sie haben daher keinen nennenswerten Marktwert, da kaum Werbewirksamkeit besteht. 
  • Sie machen trotzdem Spaß und erweitern den Horizont. 
  • Man lernt die anderen Teilnehmer gut kennen und es entwickeln sich vielleicht sogar echte, langjährige Freundschaften.

Der moderne Leser hat über die sozialen Medien unzählige zusätzliche Möglichkeiten, sich mit anderen Lesenden auszutauschen.

Inzwischen beschränkt sich das nicht mehr nur auf Facebook, Twitter, Instagram, Pinterest und Co., sondern es gibt eine ganze Reihe an Angeboten in Form von Communities und Portalen speziell nur für Leseratten.

Was Liest Du?LovelybooksGoodreads und whatchaReadin sind Beispiele für allgemeine, nicht verlagsgebundene Communities. Dort kann man nach Herzenslust über Bücher reden oder an Leserunden und Aktionen teilnehmen, die zum Teil wiederum von Verlagen gesponsert werden. 

Inzwischen haben mehrere Verlage ihre eigenen Portale und Communities eingerichtet, wie die Lesejury von Bastei Lübbe, oder nutzen bestehende Portale, wie der Fischer Leseclub auf Lovelybooks

Was diese modernen Methoden des sozialen Lesens gemeinsam haben:

  • Kommunikation, Vernetzung und Austausch sind grenzenlos. Der Wirkkreis ist kein kleiner Teich mehr, sondern ein Weltmeer, in dem jede Welle die nächste anstößt. 
  • Der Marktwert ist daher nicht zu unterschätzen. Eine Rezension kann tausende von Lesern erreichen, die das Buch dann wiederum weiterempfehlen und andere Leser erreichen, die das Buch dann wiederum weiter empfehlen…
  • Es kann sehr lohnend sein, aber durch die schiere Masse und die scheinbare Anonymität ist das “Social Reading” anfällig für die Plagen der grenzenlosen Kommunikation: unnötiges Drama, narzisstische Selbstdarstellung und Konkurrenzkampf
  • Auch über die sozialen Medien können sich gute Freundschaften entwickeln, aber die Mehrheit der anderen Leser, mit denen man so Kontakt hat, lernt man nur sehr oberflächlich kennen.

Für mich ist die schöne neue Welt des grenzenlosen Social Reading daher ein zweischneidiges Schwert. 

Das Drama versuche ich, so weit es geht, einfach zu ignorieren, denn das klassische Internetdrama ist ohnehin vollkommen immun gegen Schlichtungsversuche und sachliche Argumentation. Auf den Konkurrenzkampf muss ich mich ebenfalls nicht zwingend einlassen. Ich gucke gar nicht mehr, ob ich jetzt mehr oder weniger Follower und Seitenaufrufe habe als andere Blogger – mir ist viel wichtiger, dass ich selber zufrieden bin mit meinem Blogbeiträgen und immer versuche, mich dabei weiterzuentwickeln.

Was mich aber wirklich wurmt: 

Ich liebe es, mich rund um die Uhr mit Menschen aus aller Welt über Bücher austauschen zu können, aber ich habe den Eindruck, dass das Soziale am “Social Reading” manchmal verloren geht. Denn wo früher das Lesen und der Austausch über das Lesen Selbstzweck waren, legen sich heute andere Bedeutungsschichten und Motivationen darüber.

Wann ist Kommunikation wirklich Kommunikation?

Kommunikation ist ein Geben und Nehmen, ein ständiges Hin und Her aus Aussage und Reaktion. Aber bei den verschiedenen Leseaktionen, bei denen die Teilnehmer dazu aufgefordert werden, auch auf die Beiträge anderer Teilnehmer einzugehen, sieht es immer wieder eher so aus:

Teilnehmer A postet etwas.
Teilnehmer B schreibt als Antwort: “Cooler Beitrag – hier ist mein Blog: Link!”
Teilnahmer C folgt dem Link und antwortet auf den Beitrag von Teilnehmer B: “Ist nicht mein Genre. Schau doch mal bei mir vorbei: Link!”

Und so kann das eine ganze Weile weitergehen. Aus dem Hin und Her ist eine Einbahnstraße geworden, auf der jeder stur geradeaus brettert, ohne mal nach links oder rechts zu schauen. Dummerweise ist Lesen und Bloggen aber kein Wettrennen, was hat man also damit gewonnen?

Mehr Klicks? Mehr Leser, mit denen man dann auch keinen echten Austausch pflegt?

Wann ist Vernetzung also eigentlich nur verkappte Selbstpromotion? Können wir uns wirklich auf echten Austausch einlassen, oder suchen wir nur noch nach Bestätigung der eigenen Meinung? Natürlich war das jetzt überspitzt, und es gibt immer noch viele schöne und durchdachte Kommentare! Aber der allgemeine Trend ist beunruhigend.

Update Januar 2019

Ich habe diesen Beitrag aus aktuellem Anlass noch einmal hervorgekramt und auf meinen neuen Blog übertragen:

Eine Zeitlang sah es 2017 und Anfang 2018 so aus, als habe die zunehmende Verödung der Kommunikation eine Gegenbewegung ausgelöst. Mehr und mehr Blogger starteten Aktionen, bei denen es um Austausch und Vernetzung ging, ich selber begann mit meiner Kreuzfahrt durchs Meer der Buchblogs, die damals gut angenommen wurde und viele interessante Unterhaltungen anstieß.

Ich hatte das Gefühl, dass auch andere den echten Austausch vermissten , den man früher im guten alten Lesekränzchen hatte.

Etwa zum Zeitpunkt der Umstellung der DSGVO brach diese Entwicklung jedoch wieder in sich zusammen.


Immer weniger Klicks, immer weniger Kommentare – und die damit verbundene Verunsicherung: liegt das nur an meinem Blog, oder geht es anderen aus so? Als ich vor kurzem meine Kreuzfahrt schweren Herzens einstellte, bekam ich viel Feedback, das besagte: Ja, genau so geht es mir und meinem Blog auch.

Bloggen ohne Austausch ist nur leeres Selbstgespräch.

Woran liegt das in euren Augen, ganz konkret? Warum der plötzliche Rückschritt? Und was können wir tun, um das Ruder wieder rumzureißen?

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