© Cover ‘Kronsnest’: Pendragon
© Bild Smartphone: Pixabay
Handlung
Der junge Hannes lebt in den späten Zwanzigern auf dem elterlichen Hof in der Elbmarsch. Obwohl er sich alle Mühe gibt, die Erwartungen seines aufbrausenden Vaters zu erfüllen, muss er doch allzu oft unter dessen Fäusten und Schikanen leiden. Derweil finden die Nationalsozialisten Anhänger unter den kleinen Bauern, die sich in der Wirtschaftskrise übergangen und benachteiligt fühlen und ums Überleben kämpfen – auch in Hannes Umfeld. Trost findet er in der Natur und bei der jungen Mara, die genauso wenig in die gesellschaftlichen Schablonen zu passen scheint wie er.
Ein anderes Leben muss doch möglich sein
Mit Hannes fieberte und litt ich von Anfang an ganz intensiv mit. Er ist ein guter Junge, fleißig, hilfsbereit und intelligent, leistet neben der Schule wahre Knochenarbeit auf dem elterlichen Hof, denkt dabei mit und ist auch durchaus motiviert. Und dennoch rennt er beim Vater immer wieder nur gegen eine Wand aus Ablehnung und Zorn. Er kann nichts richtig machen, gar nichts – der Vater lauert im Hintergrund, wartet nur auf etwas, wegen dem er die Fäuste sprechen lassen kann. Dabei sehnt sich Hannes nach seiner Anerkennung, nach einem freundlichen Wort.
Da war ich manchmal hin- und hergerissen: wird der Vater nicht zu einseitig als der Böse in dieser Geschichte dargestellt, ist das glaubhaft? Aber im Laufe der Kapitel gewann ich immer mehr den Eindruck, dass er eigentlich eine sehr tragische Gestalt ist, selber als junger Mann mal so war wie Hannes, aber vom Leben gebrochen wurde. Erst von Hannes Großvater, dessen Gewalttaten er nun am eigenen Sohn wiederholt, dann vom Krieg. Ich hätte weinen und mir die Haare raufen mögen ob dieses Zyklus der Gewalt, der durch die Generationen wütet.
Gewalt gebiert Gewalt
Ein Kind lässt sich nicht ewig prügeln, bevor es anfängt, den Vater gleichzeitig zu lieben und zu hassen. Du siehst, wie das Hannes ein Stück weit verändert, wie ihm Boshaftigkeit geradezu antrainiert wird, und willst schreien: nein, geh diesen Weg nicht!
Später im Buch geschieht ein gewisses Umdenken, aber ob das noch rechtzeitig passiert, ob Hannes den Zyklus durchbrechen kann, möchte ich hier natürlich noch nicht verraten.
Weitere wichtige Charaktere
Durch seinen Lehrer Govinski – vielleicht der positivste Einfluss in seinem Leben – entdeckt Hannes die Welt der Literatur und stürzt sich drauf wie ein Ertrinkender auf das Glas Wasser. Er ist sensibel, das spürst du beim Lesen, kann geradezu poetisch mit Worten umgehen; da fragst du dich, was alles aus ihm hätte werden können, in einem anderen Leben.
Hannes hat nur wenige Menschen, die ihn auffangen können, und auch bei diesen bricht das oft weg. Sein bester Freund Thies gerät auf Abwege in dieser Zeit, in der die Nationalsozialisten ihren fatalen Aufstieg beginnen, so dass Hannes ratlos vor der Frage steht, wie er ihn davon abbringen kann. Seine erste große Liebe Mara ist eigentlich ein positives, lebensfrohes Mädchen, leidet aber immer wieder an lähmenden Depressionen. Alle um ihn herum sind ständig am Rande des Existenzverlusts.
Die weibliche Perspektive
Irgendwann wurde mir klar, dass die Frauen in Hannes’ Leben alle irgendwie verletzt sind. Da ist seine Mutter, die sich aufreibt zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn. Da ist Mara, die oft einfach nur im Dunkeln liegen und die Welt ausschließen kann. Und da ist Maras Mutter, die ihren herzensguten Mann schon lange nicht mehr erkennt.
Ich glaube nicht, dass diese Häufung von psychischen Problemen unrealistisch ist in einer Zeit, in der das Leben hart ist für alle, die Frauen aber doppelt belastet werden.
Abseits des Heimatkitsches
Der Schreibstil fängt das auszehrende, schlichte Leben der Bauern wunderbar ein, ohne idyllische Verklärung. Florian Knöppler ist keiner, der alles bis ins kleinste Fitzelchen zu Tode erklärt, so bleibt noch genug Raum, um den Dingen beim Lesen selber nachzuspüren. Aber er lässt die Leser:innen auch nicht in der Luft hängen – für mich ist die Balance zwischen ‘zu viel’ oder ‘zu wenig’ erklären gut gelungen.
Über Gefühle wird in dieser Zeit und den Kreisen, in denen Hannes sich bewegt, kaum gesprochen. Daher müssen Leser:innen genau auf das Verhalten und die unausgesprochenen Signale schauen, aber das wird meines Erachtens gut und stimmig beschrieben. Ich finde die Charaktere sehr gelungen, auch wenn du ihre Stärken, Abgründe und Kontouren selber ergründen musst – oder vielleicht gerade deswegen.
Noch eine Anmerkung
In der Leserunde, in deren Rahmen ich das Buch las, kam die Frage auf, wie originell der Roman ist. Meine Antwort darauf: Es ist eine Geschichte, die sehr grundlegende Beziehungen im Leben eines jungen Mannes in den Fokus stellt. Zum Vater, zur Mutter, zu sich selbst, zur ersten Liebe. Vor allem zu sich selbst. Ich weiß nicht, ob das wirklich origineller sein kann oder sein muss. Mich hat das Buch genau so, wie es ist, sehr berührt.
Kurzfazit
Hannes ist ein Protagonist, der mich von der ersten Seite an fesselte; ich litt und hoffte unsäglich mit ihm mit. Die anderen Charaktere finde ich ebenfalls sehr gut geschrieben – auch wenn du oft zwischen den Zeilen lesen musst, um ihre Ansichten und Gefühle zu ergründen. Aber das ist stimmig, denn das Leben auf dem Land ist hart in dieser Zeit, da tragen die meisten Menschen das Herz nicht auf der Zunge.
Der Roman zeigt sowohl, wie Gewalt eine Familie über Generationen vergiften kann, als auch, wie sehr das Leben der Bauern dieser Zeit geprägt war von Armut und erschöpfender Arbeit. Und wie anfällig das einige von ihnen machte für gewisse politische Ansichten… Florian Knöpplers Schreibstil schildert dieses Leben eindringlich und authentisch, ohne es zu verklären.
Für mich ist das Buch ein echtes Highlight – wenn auch oft ein schmerzhaftes.
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Titel | Kronsnest |
Originaltitel | — |
Autor(in) | Florian Knöppler |
Übersetzer(in) | — |
Verlag* | Pendragon |
ISBN / ASIN | 978-3-86532-746-8 (Hardcover) |
Seitenzahl* | 448 |
Erschienen im* | Februar 2021 |
Genre* | Gegenwartsliteratur |
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches |
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