Unbezahlte #werbung:
Ein Rezensionsexemplar des Buches wurde mir von NetGalley im Auftrag des Verlags zur Verfügung gestellt.
Handlung
Anfang der Sechziger in einem entlegenen Teil Deutschlands. Das Ehepaar Roleder zieht auf eine unbewohnte Insel inmitten eines großen Sees. Es ist eine Flucht nach innen, vor der Stadt und der Wirklichkeit. Mit dabei ist ihr Sohn Hans, der auf der Insel ein neues Zuhause findet. Und noch so viel mehr. Denn mit der Zeit scheint der schüchterne Junge geradezu mit der Insel, den Bäumen, dem Laub, dem Moos und dem Gestein zu verwachsen. Hans wird zum König der Insel. Bis, mit dem Bescheid der Schulbehörde, die Realität in seine kleine große Traumwelt einbricht und ihn von Insel und Eltern trennt.
Es ist der Beginn einer beschwerlichen Odyssee, gelenkt zunächst von gnadenlosen Institutionen des Staates und schließlich dem einen großen, pochenden Wunsch: zurückzukehren auf seine Insel, in die ersehnte Einsamkeit im Schatten der Welt. Doch: Wie wird die Insel, wie werden die Eltern ihn empfangen?
(Klappentext)
»Es war so kalt, dass selbst der Wind fror.«
Die Geschichte ist zutiefst bedrückend, denn Hans wird viel Unrecht getan. Er hat keine Eltern, die je wirklich hinter ihm stehen. Keine Freundschaften, die ihm bleiben, und das nicht aus eigener Schuld. Von einem klassischen Spannungsbogen will ich gar nicht sprechen; es war die Hoffnung auf eine Wendung seiner Geschicke, die mich weitertrug.
Wenn schon nicht Glück, dann wünschte ich ihm wenigstens Frieden.
Viele Fragen bleiben offen, und in unserer Leserunde kam die Überlegung auf, ob deren Beantwortung denn überhaupt wichtig und bedeutsam gewesen wäre. Es ist keine handlungsgetriebene Geschichte; sie wirft nur einen Stein ins Wasser, und du schaust dann den Kreisen zu, die sich in dir bilden, ganz individuell. Für mich machte dies sogar den besonderen Reiz des Buches aus; jede Leserin darf ihre eigenen Schlüsse ziehen. Nicht in jedem Roman funktioniert das, aber ich finde, hier ist die Geschichte stark genug, um diese Unbestimmtheit aushalten zu können.
»Und was ist mit Hans?«
Hans ist von Anfang an ein Verlorener. Schon als Kind geprägt von einen gefühlskalten, schweigsamen Elternhaus, findet er Momente der Ruhe und Zufriedenheit lediglich in der Natur. Er wird in sparsamen Charakterstudien beschrieben, die sein Wesen nur behutsam andeuten, und dennoch machen sie empathisch fühlbar, was ihm widerfährt. Doch was es für ihn bedeutet, steht auf einem anderen Blatt.
Aber Hans muss doch unglücklich sein! Aber Hans kann doch unmöglich zufrieden sein. Aber Hans ist doch…? Schwer zu fassen.
Je länger man liest, desto mehr fragt man sich, inwiefern man die eigene Vorstellung vom idealen Lebensmodell als Blaupause nimmt. Desto mehr begreift man, dass die für Hans schlichtweg nicht funktioniert. Und so wünschte ich ihm, als ich mich dem Ende näherte, vor allem, dass er mit sich im Reinen sein möge.
Auch Hans’ Eltern werden in raschen, flüchtigen Skizzen beschrieben. Rückblickend bleibt mir von ihnen nur ein Gefühl der Versehrtheit, der emotionalen Kälte; man kann erahnen, dass sich dahinter eine Art von Trauma verbirgt. Das ist für die Geschichte völlig ausreichend, denn im Grunde sieht man sie mit dem Blick eines Kindes, das die Beweggründe der Erwachsenen noch nicht nachvollziehen kann.
Der Autor haucht seinen Charakteren mit wenigen Worten Leben ein, ohne sie bis ins kleinste Detail auszuerzählen. Sie sind wie Scherenschnitte, die im Schattenspiel zum Leben erwachen.
»Ist seine Geschichte traurig? Ist sie schön? Ist sie beides?«
Dirk Gieselmann findet wunderschöne, poetische Bilder für eine Geschichte, die im Kontrast dazu inhaltlich aufs Wesentliche reduziert wird. Die Atmosphäre trägt dich von Schlüsselszene zu Schlüsselszene, Trittsteine in einem eisigen Fluss. Du frierst im Sprühnebel, fühlst dich erdrückt vom düster schwelenden Himmel und kannst dich doch der kargen Schönheit nicht entziehen. Manchmal gewinnt die Erzählung auch einen märchenhaften, versöhnlichen Klang.
Nur gelegentlich verliert sich der Roman in allzu detailverliebten oder zahlreichen Bildern, die sich mit dem inhaltlichen Minimalismus beißen, doch meist lässt er auch die Stille zu. Ob man den Roman mag oder nicht, steht und fällt indes wahrscheinlich mit der eigenen Bereitschaft, Dinge unerklärt loszulassen.
Fazit
Anfang der Sechziger zieht das Ehepaar Roleder mit seinem kleinen Sohn Hans auf eine unbewohnte Insel mitten in einem großen See – eine Realitätsflucht, die der vernachlässigte Junge nicht versteht, die ihm aber eine neue Heimat schenkt. Mehr als seine Insel und seinen Hund braucht er nicht zum Glücklichsein, doch dann soll er jeden Tag zur Schule auf dem Festland rudern – und das führt dazu, dass er alles verliert. Erst Jahre später kann sich Hans auf den beschwerlichen Weg zurück nach Hause begeben, ohne zu wissen, wie seine Eltern ihn empfangen werden.
Die Geschichte ist oft bedrückend, manchmal geradezu tragisch und schwer zu ertragen. Die Charaktere werden mit leichtem Strich angedeutet, und doch ist Hans ein Protagonist, mit dem man mitleidet und -hofft. Die lyrische Sprache trägt mit großartigen Bildern dazu bei, dass »Der Inselmann« sicher lange im Gedächtnis bleibt; nur gelegentlich ist sie etwas überfrachtet mit Metaphern. Doch die vielen wunderschönen Sätze machen die wenigen weniger gelungenen mehr als wett.
Der Roman gibt keine Lösungen vor, es liegt voll und ganz im Auge des Betrachters, wie er oder sie die Dinge interpretieren möchte. Und gerade das macht aus ihm ein tiefgründiges Leseerlebnis.
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