#Rezension Thomas Kunst: Zandschower Klinken

Thomas Kunst: Zandschower Klinken

© Cover ‘Zandschower Klinken’: Suhrkamp-Verlag
© Bild eBook-Reader: Pixabay

Handlung

“Bengt Claasen sitzt im Auto, sein ganzes Hab und Gut im Kofferraum. Vor sich, auf dem Armaturenbrett, liegt das Halsband seiner verstorbenen Hündin. Dort, wo es herunterfällt, will er anhalten und ein neues Leben beginnen. Er fährt so langsam und vorsichtig, wie es nur geht, und landet schließlich in Zandschow – einem Nest im äußersten Norden mit einem Feuerlöschteich im Zentrum.

Schnell stellt er fest: Die Bewohner des Orts rund um »Getränke-Wolf« folgen einem strengen Wochenplan, donnerstags werden zum Beispiel zwanzig Plastikschwäne auf dem Teich ausgesetzt, und sie feiern an ihrer »Lagune« Festspiele unter künstlichen Palmen. Überhaupt: Mit den prekären Verhältnissen mitten in der Pampa finden sich die Menschen hier nicht mehr ab. Ihr Zandschow ist Sansibar, hier kann man arm sein, aber trotzdem paradiesisch leben, in viel Verrücktheit.”

(Klappentext)

Literarisches Schleudertrauma

Ich war noch nicht weit gekommen, als ich das erste Mal dachte: „Moment. Diesen Satz hast du doch schon mal gelesen. Ach was, nicht nur den Satz – die ganze Passage!“ Bald darauf das nächste Déjà-vu. Und das nächste. Und das nächste. Immer wieder die gleichen Satzbausteine, mal in völlig neuen Kontexten, mal in Wiederholungen bekannter Handlungsmuster – wortgetreu oder mit lediglich minimalen Variationen.

Die Erzählperspektiven wechseln, die Sätze indes nur bedingt, und immer verläuft alles „in umgekehrter Reihenfolge“. Geradezu gebetsmühlenartig, verdammt verwirrend, wahnsinnig widerspenstig … da musste ich mich erstmal drauf einlassen. Der Charme blitzt zwar hier und dort hervor, aber anfangs war ich zu verstört, um das zur Kenntnis zu nehmen.

“Ich bitte dich, freitags vor der Bettruhe so zu tun, als hätten wir Windeln um und könnten uns an früher erinnern. Meine Mutter genoss das Leben in all seiner Wildnis und Vergeblichkeit. Als mein Vater fünf Jahre später in mein Bett sah, lag mein Schwesterchen drin und war noch kein Reh. Ich hatte nie etwas übrig für seine tolerante Gnade.”

Dieser ganze Abschnitt wird im Buch fünfmal wiederholt

Kulturschock

Ich war entgeistert, sogar ein wenig verärgert. Hatte zunächst das Gefühl, einer Mogelpackung aufgesessen zu sein – dass die 254 Seiten womöglich nur aus einem endlosen Fragmente-Tetris bestünden. Was soll das sein, was ist das hier?! Dennoch, neugierig machte mich schon, was ich so erahnen, mir an Sinn aus den Versatzstücken herauskratzen konnte.

Also erstmal abwarten, was da noch so kommt. Den analytischen Verstand bis auf Weiteres außen vor lassen. Das Buch urteilsfrei wirken lassen wie Improvisationstheater. Und tatsächlich: Bald entwickelten die Wiederholungen eine geradezu hypnotische Sogwirkung. Sie sind der Beat, der Kunsts wilder, grotesk-witziger Improvisation einen Rhythmus verleiht.

Abseits literarischer Konventionen

Mal scannen deine Augen nur noch die Buchstaben, weil du ja schon weißt, was da steht, während Sinn oder Unsinn leise dröhnen wie ein unterschwelliger Chorgesang. Mal wirkt diese Zerpflückung der Sprache, das Herausreißen aus dem Zusammenhang, beinahe dadaistisch. Du suchst nach Unterschieden, nach Sätzen, die du noch nicht kennst, dem magischen Schlüssel, der dir die Handlung erklärt. Denn natürlich gibt es sie – die Sätze, die einmalig sind, der Wiederholung entkommen. Sie leuchten geradezu heraus aus dem Dickicht des Altbekannten.

Aber ein Handlungsgerüst erschließt sich kaum, denn eine fortlaufende Handlung gibt es nur in Ansätzen, die Erzählperspektive ist oft unbestimmt. Das Buch verweigert den Leser:innen einfache, unmittelbar nachvollziehbare Erklärungen und Zusammenhänge. Da musst du einfach hinnehmen, dass ein norddeutsches Reh Spanisch-Unterricht nimmt, in Kolumbien einen Taxischein macht und nebenher reiche Touristen entführt, um den Verdienst aufzubessern. Das ist nah am Surrealen, mitten drin im Traumhaften.

Zandschow zwischen den Zeilen

Dennoch ist das Zentrum der Geschichte immer das fiktive nordostdeutsche Dorf Zandschow, wo die Menschen sich den Alltag trotz Armut und Perspektivlosigkeit auf fantasievolle Art aufregend und paradiesisch gestalten. Die Industrie hat sie abgehängt, der Fortschritt hat sie verraten … Na und? Jetzt erst recht! Zandschow ist Freiheit.

Einerseits wirken die Einwohner wie lustvolle Anarchisten, andererseits haben sie sich ihr Glück streng nach Wochenplan reglementiert: Auf diese Art hast du an diesem Tag erfüllt und glücklich zu sein, basta. Aber ihre verrückten Rituale sprengen jede Vernunft, jeden Trott, jeden Zwang – und machen gerade deshalb verdammt viel Spaß.

Das Ernsthafte im Wahnwitz

Es ist alles gleichzeitig echt und falsch. Der Löschteich in Dorfmitte ist das Meer, ein paar Steinbrocken sind die Küste, mit ein paar künstlichen Palmen wird Zandschow vollends zu Sansibar. Mit Hometrainern fahren sie die Tour de France nach, wobei auch Vieh auf der Straße und Tränengasattacken buchstäblich ins Wohnzimmer geholt werden. Eine Sonnenbank kann Spanien, Italien oder die Karibik sein; regelmäßig findet eine Art von Ausdruckstanz mit Plastikschwänen statt – alles ist möglich. Sie sind Aussteiger, die ihr Dorf nur in Gedanken verlassen. Das aber mit Enthusiasmus.

“Schwäne. Schwäne. Die Schwäne. Die Schwäne. Schwäne über Schwäne. Die Schwäne über die Schwäne.”

Zwischendurch blitzen Erinnerungen des Protagonisten an seine DDR-Kindheit auf, und die spiegeln sich wider im absurden Geschehen. Anderes nimmst du quasi in mentaler Osmose auf: Eine problematische Vater-Kind-Beziehung. Leben in einer abgehängten Region. Selbstverwirklichung an der Armutsgrenze. Manches liest sich wie ein Märchen, anderes erkennt man jäh und überraschend als Gedicht.

Fazit

Deutliche Kritikpunkte

Das kleine Dorf Zandschow liegt in vielerlei Hinsicht mitten im Nirgendwo: hier gibt es keine Arbeitsstellen, keine Perspektiven, kein Garnichts. Aber was die Bewohner besitzen, ist Fantasie und eine wilde Entschlossenheit, das Leben mit ihren kargen Mitteln zu feiern, auf eine skurril-aberwitzige Art und Weise. Und so wird Zandschow zu Sansibar, der Löschteich zum karibischen Meer.

Thomas Kunst verpackt das in eine Sprache, die Leser:innen einiges abverlangt, da schwirrt dir beim Lesen nur so der Kopf. Das vorherrschende Stilelement, gnadenlos ausgereizt, besteht aus Wiederholungen ganzer Passagen. Wieder und wieder und wieder liest du dieselben Sätze, dieselben Abschnitte, bis sie irgendwann an dir vorüberziehen wie im Rausch.

Und ja, da steckt durchaus auch Kritik drin: gesellschaftlich, sozial, politisch. Bei allem Chaos, aller sprachlichen Anarchie, ist das Buch doch nicht beliebig, sondern durchaus bewusst komponiert. Ich bin hin- und hergerissen, aber eines ist sicher: Das ist wirklich mal was ganz Neues und Gewagtes, das ist eine Sprache zwischen Poesie und Prosa, die dich provokant aus der Wohlfühlzone schubst.

Meines Erachtens verdient der Titel alleine für Originalität und verbale Experimentierfreude schon die Nominierung für den Deutschen Buchpreis. Ist er mein Favorit? Zugegeben, das nicht.

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TitelZandschower Klinken
Originaltitel
Autor(in)Thomas Kunst
Übersetzer(in)
Verlag*Suhrkamp
ISBN / ASIN978-3-518-42992-1 (Hardcover)
978-3-518-76776-4 (eBook)
Seitenzahl*254
Erschienen im*Februar 2021
Genre*Gegenwartsliteratur
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
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