© Cover ‘Feuerland’: dtv-Verlag
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Eine Leidenschaft, die Wahnsinn nährt
Auf einer Parkbank liegt ein vergessenes Buch: ein Wörterbuch der Sprache eines längst verlorenen Volkes. Für seinen Ersteller war es Lebensinhalt und größter Schatz, für seinen Finder wird es schnell zur Obsession. Die Leben zweier Männer, die sich auf verschiedene Art und Weise der Sprache und der Völkerkunde verschrieben haben, überlappen sich, ohne dass sie sich jemals persönlich begegnet wären.
Thomas Bridges gelangt in den 1850er Jahren als Adoptivsohn eines britischen Missionars nach Südamerika und verbringt dort einige Zeit beim Volk der Yámana. Er verliebt sich schon als Jugendlicher in deren Sprache und Kultur und macht sich daran, ein detailliertes Wörterbuch zu erstellen. 1859 wird der erst 17-Jährige mit der Leitung der Mission betraut. Jahrzehnte später, kurz vor seinem Tod, umfasst das Wörterbuch 32.000 Einträge – und wird ihm gestohlen.
Hier kommt Ferdinand Hestermann ins Spiel, ein deutscher Ethnologe, Sprachwissenschaftler und Hochschullehrer, der das Wörterbuch rein zufällig findet. Schnell ist er von seinem unverhofften Schatz genauso besessen wie Bridges es war. Als in den 1930er Jahren die Nationalsozialisten beginnen, Bibliotheken zu plündern, ist für ihn klar: er muss unbedingt verhindert, dass ihnen das Buch in die Hände fällt, und so begibt er sich auf eine abenteuerliche Reise.
Hinweis:
Beide Männer gab es wirklich, auch wenn viele der Ereignisse im Buch fiktiv sind und sich im realen Leben nicht so ereignet haben.
“Dies waren keine Einträge eines Wörterbuchs, Hestermann hatte bisweilen das Gefühl, dieses Buch sei nur als Wörterbuch getarnt, in Wahrheit sei es ein Bauplan, eine Anleitung zum Erschaffen eines Teils der Welt, für den Fall, dass diese Welt einst untergehen sollte. Es war eine Kopie der Wirklichkeit in Form von Wörtern, es war ein philosophischer Gral, nichts mehr und nichts weniger.”
(Zitat)
Kolonialismus und der Untergang einer Kultur
Der Teil der Geschichte, der sich mit Thomas Bridges beschäftigt, beleuchtet sehr gut das Wesen und die Abgründe des Kolonialismus. Die Missionare haben in ihren eigenen Augen nur die besten Absichten, und doch bringen sie den Völkern, die sie bekehren wollen, Krankheit und Tod. Die Yámana, deren Sprache Thomas in seinem Wörterbuch festhält, sind dafür ein mahnendes Beispiel; die Missionare werden zu Auslösern für deren rasante und beinahe vollständige Ausrottung.
Hier eröffnet sich eine interessante Parallele, die von Michael Hugentobler sicher auch beabsichtigt ist. In Bridges’ Teil der Geschichte wird die Welt der Yámana durch äußere Einflüsse bedroht, der vollständige Zusammenbruch ist imminent. In Hestermanns Teil der Geschichte geht auch seine Welt in gewissem Sinne unter – zumindest muss es ihm, der die Entwicklungen machtlos mit ansehen muss, so scheinen.
Originalität und Einfallsreichtum
Beim Lesen habe ich mir notiert:
Ich bin rundum begeistert von diesem Buch. Diese Sprache, dieses Spiel mit Traum und Wirklichkeit! Der subtile Humor! Und natürlich die feine Betrachtung der dräuenden Dunkelheit des Nationalsozialismus. Großartig.
Die Geschichte verwebt historische Fakten mit fiktiven Elementen und sprüht dabei nur so vor schöpferischem Witz. Es geht um Ethnologie, um Kolonialismus, um Fanatismus, das ist alles nur zu real und wird auch realistisch beschrieben – doch lange (alb)traumhafte Sequenzen spielen immer wieder mit den Grenzen von Schein und Wirklichkeit.
Traum und Wirklichkeit
Oft vermischen sich Innenwahrnehmung und Außenwahrnehmung des Protagonisten, und diese Passagen sagen immer sehr viel aus über sein Wesen und seinen Charakter. Begann das Buch im ersten Abschnitt noch mit wenigen sehr subtilen Traumsequenzen, begibt sich die Erzählung im letzten Drittel endgültig ins Reich der Mythen und der mündlich weitergereichten Schauergeschichten, sie wird zunehmend surreal.
Das sorgt für eine dichte Atmosphäre, eine mit Händen greifbare Stimmung. Die Geschichte befreit sich aus dem engen Käfig der reellen Ereignisse – und im Nachwort wird klar, dass das Sinn macht, weil die Grundidee dem Autor auch in der Grauzone zwischen Realität und Mythos begegnet ist.
Aber es polarisiert auch – ich habe den Roman im Rahmen einer Leserunde gelesen, und da gingen die Meinungen sehr stark auseinander, um es vorsichtig auszudrücken!
Charaktere vs. Realität
Die Charaktere finde ich auf spezielle, eigentümliche Art sehr gut gelungen. Viele sind stark überzeichnet, den ein oder anderen Nebencharakter fand ich geradezu kafkaesk, aber man hat immer direkt einen sehr deutlichen Eindruck von der jeweiligen Persönlichkeit.
Man sollte sich meines Erachtens von der Vorstellung lösen, dass Thomas Bridges und Ferdinand Hestermann ihren realen Vorbildern genau entsprechen; der Roman nimmt sich hier und dort die Freiheit, sie eher als fiktive, wenn auch vom realen Leben inspirierte Charaktere zu behandeln.
Beide sind keine klassischen Helden, sondern Menschen mit Schwächen und Fehlern, deren Leben unabhängig voneinander Parallelen aufweisen. Beide haben es mit Konflikten zu tun, die sie nicht aufhalten können, beide klammern sich an das Buch, weil sie ansonsten die Kontrolle verlieren.
Sprache und Schreibstil
Die Sprache ist ein Fest, da will ich mich reinknien: wunderbar aussagekräftig und bildlich, außergewöhnlich, aber nicht gekünstelt… Sehr passend für einen Roman, in dem das Thema Sprache durch seine Protagonisten immer wieder im Fokus steht.
Für mich ist das Buch ein klitzekleiner Einblick in die für den Laien fremdartige Welt wenig bekannter Sprachen – oder zumindest in die Welt der Menschen, die diese Sprachen erforschen. Beim Lesen kam in mir der Wunsch auf, ich hätte etwas studiert, bei dem ich mich auch so mit der Sprache hätte befassen können.
Dem Autor gelingt eine feine Balance: er spart nicht mit Details, wo sie einer Szene oder einem Thema Würze und Leben geben, kann aber auch auf das Notwendigste reduzieren, wenn es um etwas geht, das für die Geschichte nicht näher erklärt werden muss.
Fazit
Thomas Bridges kommt in den 1850er Jahren als Adoptivsohn eines britischen Missionars ins Gebiet der Yámanas in Südamerika. Er beginnt schon bald damit, ein Wörterbuch der Sprache dieses sterbenden Volkes zu erstellen. Jahrzehnte später umfasst es 32.000 Wörter und gelangt in den Besitz des Ethnologen und Sprachwissenschaftlers Ferdinand Hestermann, für den es schnell Fix- und Angelpunkt seines ganzen Lebens wird. Um zu verhindern, dass das Buch den Nationalsozialisten in die Hände fällt, verlässt er in den 30er Jahren das Land und begibt sich auf eine Reise, die zunehmend unwirklicher und bedrohlicher erscheint.
Der Roman ist durch und durch originell, beschäftigt sich in einzigartigem Stil mit Kolonialismus, Fanatismus, Ethnologie und Sprache. Die Handlung weicht in vielem von der Realität ab, verliert sich hier und dort sogar in Traumsequenzen und sehr sonderbaren Episoden – aber wenn man sich darauf einlässt, ist das auf kafkaeske Weise großartig. Schreibstil und Charaktere fand ich phänomenal.
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Titel | Feuerland |
Originaltitel | — |
Autor(in) | Michael Hugentobler |
Übersetzer(in) | — |
Verlag* | dtv |
ISBN / ASIN | 978-3-423-28269-7 (Hardcover) 978-3-423-43861-2 (eBook) |
Seitenzahl* | 224 |
Erschienen im* | März 2021 |
Genre* | Gegenwartsliteratur / Zeitgeschichtliches |
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