© Cover ‘Morenga’: dtv
© Bild Smartphone: Pixabay
Handlung
Deutsch-Südwestafrika (auf dem Gebiet des heutigen Namibia), 1904 bis 1908. Die Herero und Nama, spöttisch ‘Hottentotten’ genannt, kämpfen erbittert gegen die Kolonisten und Soldaten des Deutschen Kaiserreichs. Obwohl es zwischen den beiden Volksstämmen Spannungen und Konflikte gibt, eint der charismatische Jakob Morenga, Sohn eines Hereromannes und einer Namafrau, sie als Leitfigur des Konflikts.
Die Deutschen begehen den Fehler, ihre Unerfahrenheit mit den Lebensbedingungen in Südwestafrika zu unterschätzen, während die Nama dies in einem Guerillakrieg klug ausnutzen. In letzter Konsequenz gleichen die Usurpatoren das aber mit erbarmungslosem Einsatz aller verfügbaren Kräfte aus.
Die Geschehnisse gipfeln in einen Genozid, der an Menschenverachtung kaum zu überbieten ist. Zirka 40.000 bis 60.000 Herero sowie etwa 10.000 Nama werden kühl berechnend ausgerottet.
Kolonialismus und Konzentrationslager
“Die Geschichte lehrt die Menschen, daß die Geschichte die Menschen nichts lehrt.”
Mahatma Gandhi
Man weiß, wie Schwarze, Andersgläubige oder in sonstiger Form von der eigenen vermeintlichen Überlegenheit abweichende Menschen im Laufe der Geschichte behandelt wurden – und vielerorts leider noch immer behandelt werden. Ich schreibe diese Rezension im Jahr 2020, während der “Black Lives Matter”-Proteste, und aktueller könnte das Thema nicht sein.
Trotzdem ist es schwer, in diesem Buch zu lesen, wie die Ureinwohner in Südwestafrika behandelt wurden: in Konzentrationslager eingesperrt, aufgeknüpft, ausgepeitscht, vergewaltigt oder zur Arbeit gezwungen. Man trieb Tausende in die Wüste, wo sie elendig verhungerten und verdursteten – und so verhielten sich die gleichen Menschen, die sich über die “Wilden” und deren angebliche Verrohung beklagten.
Selbst Frauen und Kinder wurden mit klinischer Teilnahmslosigkeit getötet. Alles im Namen der weißen Überlegenheit – deutsche Gründlichkeit wie später unter Hitler.
Aber man kann keine Zivilisation auf den Knochen Unschuldiger errichten.
Nicht mal mit den allerbesten Absichten, und selbst die sind hier nicht gegeben. Das prangert Timm glasklar an, ohne es dem Leser vorbeten zu müssen. Was geschah, ist auch neutral betrachtet eine deutliche Anklage.
Als “Morenga” 1978 das erste Mal erschien, wurde Timm als Verräter angefeindet, weil er die schöne deutsche Kolonialzeit gnadenlos entlarvte. Es ist immer wieder ernüchternd, wie sehr der Mensch Dinge pervertieren kann, selbst grundlegende ethische Prinzipien, die selbstverständlich sein sollten.
Eigentlich ist schockierend, dass ich über den Völkermord an den Herero und Nama in der Schule nichts gelernt habe – oder dass die Vereinten Nationen ihn immer noch nicht als Genozid anerkannt haben! Auch wenn er zahlenmäßig nicht mit dem Holocaust “mithalten” kann, sollte es nicht weniger wichtig sein, ihn im kollektiven Gedächtnis nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Das Buch vereint verschiedene Stile und verschiedene Herangehensweisen an das Thema.
Manche Passagen, in denen es zum Beispiel um die Erlebnisse des jungen Oberveterinärs Gottschalk geht, lesen sich unterhaltsam und leicht wie ein Roman, jedoch niemals flach oder gar beschönigend. Andere wirken dagegen wie Auszüge eines Sachbuch mit Gefechtsprotokollen, Truppenbewegungen und einer Vielzahl von Namen, Jahreszahlen und Orten. Geballtes Wissen, nur wenig gestrafft.
Deswegen las ich “Morenga” zusammengenommen eher wie ein populärwissenschaftliches Sachbuch mit Romanelementen. Aber das änderte nichts daran, dass ich es sehr gelungen und interessant fand.
Gut gefiel mir auch, dass ganz ungezwungen und nahtlos Geschichten einfließen, die an afrikanische Volkserzählungen erinnern. Zutiefst absurd lesen sich dagegen die Bemühungen der Missionare, ohne jegliche Erfahrungen mit diesem Lebensraum den Einwohnern zu erklären, wie man x, y oder z besser macht – was oft schiefgeht, weil es auf dieses Klima oder diesen Boden einfach nicht anwendbar ist.
Zum Totlachen? Nur bis zur nächsten Beschreibung einer unbeschreiblichen Grausamkeit.
“Eine Zeit lang ging Gottschalk dem verrückten Gedanken nach, aus der Landschaft und von den Einwohnern ein neues Denken zu lernen, mit dessen Hilfe man alles anders sehen könnte, tiefer und genauer.”
Oberveterinär Gottschalk ist sicher eine Identifikationsfigur, jedoch kein strahlender Held. Der Kontrast zwischen seinem Empfinden und seinen Verhalten ist oft unangenehm und schmerzlich – eine stete Erinnerung daran, wie wenig Widerstand es in den Reihen der Deutschen gegen diesen Genozid gab. Sein Denken und Sehnen zeigt ihn als Menschen, der weiß, dass er Geschehnisse miterlebt, die moralisch nicht zu entschuldigen sind, der quasi schon auf dem Sprungbrett steht – jedoch den Sprung nicht wagt. Ich lasse hier offen, ob er am Ende springt oder nicht.
Was mir sicher noch lange in Erinnerung bleiben wird, sind seine Ängste, er könne abstumpfen, er könne aufhören, Unrecht als Unrecht zu sehen. Sein moralischer Kompass funktioniert – und dennoch lässt er sich im Verlaufe der Handlung auch auf fatale Abwege leiten, meist aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus.
Nein, Timm hat wahrlich kein Heldenepos geschrieben und vermeidet glorifzierendes Pathos.
Er erlaubt es dem weißen Leser nicht, sich in oberflächliche moralische Beruhigung zu flüchten, indem er ihm etwa einen weißen Protagonisten an die Hand gibt, der der Unterdrückung und den Grausamkeiten offen und mutig trotzt. Der Rassismus und die Abgründe der Kolonialisierung liegen in all ihrer Grausamkeit bloß und ekelerregend vor dem Auge des Lesers.
Morenga selber spielte eine deutlich kleinere Rolle als erwartet, obwohl er die größte Symbolfigur für den Konflikt war. Er muss eine beeindruckende Gestalt gewesen sein, charismatisch und intelligent – der wandelnde Beweis dafür, wie falsch ein Großteil der Deutschen damit lag, die Ureinwohner als minderbemittelt und fast schon tierhaft zu betrachten. Er wirkt in diesem Roman indes mehr wie eine Idee, eine Bewegung, eine Entwicklung als eine Person aus Fleisch und Blut – es ist Gottschalk, den ich als die wahre Schlüsselfigur des Buches sehe.
Fazit
Uwe Timm beschreibt den Beginn des deutschen Völkermords an den Herero und Nama (ab 1904 in Deutsch-Südwestafrika) in einer gelungenen Mischung aus Sachbuch und Roman.
Ich habe mich beim Lesen immer wieder gefragt: Warum habe ich das in der Schule nie gelernt? Warum hat mir niemand gesagt, dass es 1904 schon deutsch-bürokratischen Genozid und Konzentrationslager gab? Ich weiß nicht, ob es inzwischen Schulstoff ist, aber das sollte es ein.
Ich bin froh, dass Uwe Timm mir diese Episode der deutschen Geschichte nähergebracht hat – auch wenn sie so schrecklich ist, dass man sich beim Lesen wünscht, es wäre nur ein Roman.
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Titel | Morenga |
Originaltitel | — |
Autor(in) | Uwe Timm |
Übersetzer(in) | — |
Verlag* | dtv |
ISBN / ASIN | 9783423147613 (Taschenbuch) |
Seitenzahl* | 480 |
Erschienen im* | Februar 2020 |
Genre | Historisch / Zeitgeschichtlich |
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches |
Das Buch auf der Seite des Verlags
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