Ein Rezensionsexemplar des Buches wurde mir vom Verlag für eine ehrliche Rezension zur Verfügung gestellt.
© Cover ‘Dörte Hansen Mittagsstunde’: Penguin Verlag
© Foto: A.M. Gottstein
Handlung
“Die Wolken hängen schwer über der Geest, als Ingwer Feddersen, 47, in sein Heimatdorf zurückkehrt. Er hat hier noch etwas gutzumachen. Großmutter Ella ist dabei, ihren Verstand zu verlieren, Großvater Sönke hält in seinem alten Dorfkrug stur die Stellung. Er hat die besten Zeiten hinter sich, genau wie das ganze Dorf. Wann hat dieser Niedergang begonnen? In den 1970ern, als nach der Flurbereinigung erst die Hecken und dann die Vögel verschwanden? Als die großen Höfe wuchsen und die kleinen starben? Als Ingwer zum Studium nach Kiel ging und den Alten mit dem Gasthof sitzen ließ? Mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Verschwinden einer bäuerlichen Welt, von Verlust, Abschied und von einem Neubeginn.”
(Klappentext)
Wird schon wieder. Wird alles wieder gut.
Meine Meinung
Es gibt Bücher, die will man weiterempfehlen – notfalls weiterverschenken! –, das Lob des Autors oder der Autorin von den Dächern schreien und fortan all ihre Bücher lesen. Bücher wie “Mittagsstunde”.
Ich bin verliebt in dieses Buch, das ganz ohne abgedroschene Rührseligkeit daherkommt. Diese Atmosphäre, diese Sprache, diese Charaktere… Grandios. Und dabei so ungefiltert, so wahr und so nah dran am Leben, mit all seinen Höhen und Tiefen, dass es manchmal wehtut. Die Autorin sagt in wenigen Sätzen ganz viel: Lebensgefühl und Lebenswirklichkeit, komprimiert in ein paar prägnanten Bildern.
“Keine Schönheit weit und breit. Nur nacktes Land, es sah verwüstet und geschunden aus. Ein Land, das man mit einer frommen Lüge trösten wollte, die Hand auf diese Erde legen: Wird schon wieder. Wird alles wieder gut.”
(Zitat S. 18)
Was Dörte Hansen hier beschreibt, ist nicht weniger als der leise Abgesang einer Epoche.
Hier ist ein Dorf noch ein ganzes Universum – Heim und Trost, Fluch und Gefängnis seiner Bewohner. Vieles wird dabei nicht benannt, nicht mit Etiketten versehen, weil es gar nicht nötig ist. Auch wer nicht vom Dorf kommt, kann diese Welt mühelos aus Frau Hansens Zeilen herauslesen.
Alles wird durchs Dorf getragen – nur werden die wirklich wichtigen Dinge nicht zwischen den Leuten besprochen, die es wirklich angeht. Der Zusammenhalt ist absolut, man wendet einem Bewohner des Dorfes nicht den Rücken – aber das gilt auch für den Vater, der seine Kinder verprügelt.
Der Roman verzichtet auf plumpe Werturteile, der Leser kann (und wird) sich sein eigenes Bild machen.
Das Dorf verkommt dabei nicht zur kitschigen Idylle.
“Man hatte hier als Mensch nicht viel zu melden. Man konnte gern rechts ranfahren, aussteigen, gegen den Wind anbrüllen und Flüche in den Regen schreien, es brachte nichts. Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch.”
(Zitat S. 17)
Das ist meines Erachtens deswegen spannend, weil man gar nicht anders kann, als die Geschehnisse durch die Augen der Charaktere zu sehen – ‘bisschen Mensch’ hin oder her, auch wenn der Roman damit beginnt und endet.
Denn die Charaktere sind Menschen, keine Klischees.
Sie haben gravierende Schwächen, machen Fehler, sind manchmal unsympathisch, aber immer nachvollziehbar und echt.
Der wichtigste Protagonist ist in meinen Augen Ingwer, der dem Dorf schon vor langer Zeit den Rücken gekehrt hat, um zu studieren, und jetzt zurückkehrt, um seine alten Eltern zu pflegen, die eigentlich seine Großeltern sind. Obwohl er schon lange erwachsen ist, steht er immer noch mit einem Fuß in beiden Welten – Dorf und Stadt, Tradition und Moderne.
In Rückblicken erfährt man die Geschichte verschiedener Bewohner des Dorfes, wie eben die von Sönke, Ingwers (Groß)vater. Der erscheint auf den ersten Blick schroff und abweisend, wie ein stures Urgestein, mausert sich dann aber zu einem Charakter, der mir ans Herz gewachsen ist wie lange kein anderer.
Ein weiterer wichtiger Charakter ist „Marret Ünnergang“, die durchs Dorf tingelt und den Untergang prophezeit. Das wird akzeptiert, darüber wundert sich keiner, sie ist halt “verdreit” – da kann man sich als Leser vergeblich fragen, ob sie vielleicht eine geistige Behinderung hat.
Auch hier verzichtet das Buch auf Etiketten.
Worauf es ebenfalls verzichtet, sind einfache Antworten. Im Leben gibt es nur sehr wenige ‘saubere’ Enden, und so bleibt vieles ungeklärt. Das tut der Wirkung des Buches meines Erachtens keinen Abbruch.
Fazit
Dörte Hansen beschreibt mit viel Wärme, aber ohne platte Heimatidylle, das Ende einer Ära. Die Flurbereinigung hat Brinkebüll erreicht, die kleinen Bauern müssen einsehen, dass die alten Traditionen nicht mehr ausreichen, um von der Landwirtschaft leben zu können… Die Menschen von Brinkebüll sehen sich mit dem Untergang ihrer kleinen Welt konfrontiert.
Auch wenn es manchmal schmerzt, ist das Buch doch immer wunderbar, mit einem klaren Schreibstil voller einprägsamer Bilder und lebendigen Charakteren, mit denen man trotz ihrer Schwächen mitfühlt.
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Titel | Mittagsstunde |
Originaltitel | — |
Autor(in) | Dörte Hansen |
Übersetzer(in) | — |
Verlag* | Penguin Verlag |
ISBN* | 9783328600039 |
Seitenzahl* | 320 |
Erschienen am* | 15. Oktober 2018 |
Genre | Gegenwartsliteratur |
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches |
Das Buch auf der Seite des Verlags
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