#Lesetagebuch KW39 2022

Lesetagebuch

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Zuletzt rezensiert

Eckhart Nickel: Spitzweg

Eckhart Nickel: Spitzweg

Ein gebildeter junger Lebemann, wie aus der Zeit gefallen. Ein Kunstbanause, bezaubert und dennoch verunsichert. Eine Künstlerin, die aufs Schmählichste beleidigt wurde. Alle drei gehen noch auf die Schule, kommen zusammen in einem Racheplot, der mit der Vortäuschung von Selbstmord beginnt und mit einer Verfolgungsjagd im Museum eine unerwartete Wendung nimmt. Das spielt in der Gegenwart, entzieht sich jedoch der Oberflächlichkeit einer zusehends sinnentleerten Gesellschaft. Das ist raffiniert, originell, intelligent geschrieben, gehaltvoll. Das ist ein echter Bildungsroman, der dich herausfordert und dabei doch unterhält.

Woran ich jedoch immer wieder verzweifelte, das war die geradezu performativ zur Schau getragene Bildung, augenscheinlich ermöglicht durch Privileg und Wohlstand. Das hat einen Beigeschmack von Gatekeeping, sieht man den Erzähler doch geradezu verzweifelt danach haschen, ‘gebildet genug’ zu sein. Zwar wird dies abgemildert durch feine Ironie, durch einen altmodisch verbrämten, an Heinz Rühmann erinnernden Humor, und doch, und doch … Immer wieder beschlich mich die Frage nach der Zugänglichkeit: Wer kann diesen Roman lesen, wer kann sich an den zahlreichen kleinen ‘Ostereiern’ erfreuen, wer klappt das Buch zu mit einem frustrierten Gefühl der Unzulänglichkeit?

[ Meine ganze Rezension zu “Spitzweg” ]

Zuletzt beendet

(Rezension folgt noch)

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter

Alles, ALLES ist die Schuld der Mutter. Immer. Der Vater lässt keine Gelegenheit aus, seine Frustrationen auf sie zu projizieren, seine tief verwurzelten versteckten Minderwertigkeitsgefühle. Genauer sagt: Alles, was schiefgeht in seinem Leben, ist Schuld ihres Gewichts. Ja. Er wird nicht befördert, weil sie dick ist, das macht Sinn. In seinem Kopf. Das Buch hat mich so wütend gemacht. Die Mutter arbeitet sich kaputt, aber wer dick ist, muss ja auch faul sein. Die Mutter hat gravierende gesundheitliche Probleme, unerträgliche Schmerzen, aber das muss ja wohl an ihrer Fettleibigkeit liegen. Ihr Mann kauft sich mal eben so ein teures Auto, aber SIE gibt zu viel Geld aus.

Daniela Dröscher schreibt über Themen, die in den letzten Jahren viel diskutiert wurden: Body Shaming. Übergewicht und die damit verbundene gesellschaftliche Ächtung. Übergewicht und die seelischen Ursachen. Und das ist nicht nur topaktuell, sondern auch wichtig. Sage ich jetzt einfach mal als Frau, die ihr halbes Leben lang übergewichtig war, ein paar Jahre auch fettleibig.

Ich wünschte, die Mutter hätte sich im Verlauf der Geschichte stärker emanzipiert, hätte die durchaus vorhandenen Chancen, aus einer toxischen Ehe auszubrechen, genutzt – aber das Buch ist ja autofiktional, und so sind die Dinge nun mal gelaufen. Es ist eine Leidensgeschichte, eine Opfergeschichte, und damit wird die Mutter auch literarisch schon wieder auf ihr Gewicht reduziert. Schwierig, das zu vermeiden in diesem Spagat zwischen persönlicher Familiengeschichte und Literatur.

Mir gefiel “Lügen über meine Mutter”, auf jeden Fall, und es löste ein wahres Gedankenkarussel in mir aus. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr hätte ich mir eine Straffung des Romans gewünscht. Vieles wiederholt sich auf den 448 Seiten, ohne dass sich dadurch neue Perspektiven eröffnen würden; das Buch prangert den Status Quo an, ohne den Käfig der Autofiktion je wirklich aufzubrechen.

“Lügen über meine Mutter” ist das Patenbuch der Buchpreisbloggerin Karlotta Lehnert – lottelikesbooks
Instagram: @lottelikesbooks

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Fatma Aydemir: Dschinns

Fatma Aydemir: Dschinns

Ende der 90er plant der in Deutschland lebende Hüseyin seine Rente. Dreißig Jahre lang hat er sich abgeschuftet und gespart, gespart, gespart, bis das Geld endlich reichte für eine Wohnung in Istanbul. Hüseyins Traum, die ganze Familie dort zu vereinen, ist fast mit Fingern zu greifen, also reist er schon mal vor, um sich die eingerichtete Wohnung anzusehen. Zufrieden, hoffnungsvoll läuft er durch die Zimmer und denkt über seine Familie nach, vor allem über die Tochter, die er um Verzeihung bitten will. Alles soll anders werden … Doch da spürt er einen schrecklichen Schmerz im linken Arm, im Brustkorb und begreift: Er wird die ersehnte Versöhnung nicht mehr erleben.

Zehn Seiten, und schon hat der Roman dir das Herz gebrochen, Leser:in. Einfach so. Aber lies weiter, es lohnt sich: Was für ein großartiges, großartiges Buch. Was für ein wunderbarer, kraftvoller und doch subtiler Schreibstil.

Die Stimmen verschiedener Familienmitglieder fügen sich zusammen zu einem Bild, das ausdrucksstärker und bewegender meines Erachtens kaum sein könnte. Jede Generation bringt ihre eigenen Geister und Dämonen mit (ihre ‘Dschinns’); da schwingen Schmerz und Wut mit, unerfüllte Wünsche und beschnittene Träume. Zu viel davon blieb bisher unausgesprochen und bricht sich erst jetzt, als alle in Trauer vereint sind, seine Bahn. Doch die Sprachlosigkeit lässt sich nicht so einfach überwinden, da die Lebenserfahrungen sich drastisch unterscheiden und es auch gegenseitige Schuldzuweisungen gibt.

»Diese Familie wird weder verklärt noch verteufelt«, sagte die Autorin beim Großen Longlist-Abend im Literaturhaus Hamburg. »Es gibt deutliche Probleme, aber auch Potentiale«. Sie wolle das Narrativ »Ich erzähl euch jetzt, wie dieser Gastarbeiter gelebt hat« brechen – und damit, dass man als Autor:in immer direkt für alle Menschen sprechen solle, die Gemeinsamkeiten mit der Hauptfigur haben.

“Dschinns” ist das Patenbuch der Buchpreisbloggerin Yvonne Tang (曾静雯) – Bookish Yvonne
Instagram: @bookish.yvonne
Twitter: @BookishYvonne

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Kategorie: Lesetagebuch

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