
© Cover ‘Matthias Senkel Dunkle Zahlen’: Matthes & Seitz Berlin
© Foto: A.M. Gottstein
Das Buch stand auf der Longlist der nominierten Bücher, hat es aber nicht auf die Shortlist geschafft.
Handlung
Klappentext:
“Moskau 1985: Die internationale Programmierer-Spartakiade hält die akademischen Eliten des Landes in Atem. Hier messen sich aufstrebende Mathematiker in den Techniken der Zukunft, die nur noch einen Tastendruck entfernt scheint. Doch die kubanische Nationalmannschaft ist kurz vor der Eröffnung des Wettbewerbs spurlos verschwunden – und ihre resolute Übersetzerin Mireya begibt sich auf eine atemlose Suche durch die fremde Hauptstadt, die wie elektrostatisch aufgeladen surrt und flimmert. Architekten und Agenten, dichtende Maschinen und sogar Stalins leibhaftiger Schatten treffen in dieser wilden und manchmal fantastischen Erzählung aufeinander: ein schillerndes Mosaik der Sowjetunion kurz vor der folgenreichen Vernetzung der Welt. Ein Roman so unberechenbar wie die Geschichte selbst.”
[ DOES NOT COMPUTE. REPEAT? ]
Meine Meinung
Das erste Blättern durchs Buch:
Aha, ein Abkürzungsvereichnis. ‘GRU GSch WSCCP’ als Abkürzung zu bezeichnen ist gewagt. Direkt danach, als Gegenpol: ein PVLLRN¹. Ich lach mich tot – ein Witzarchiv. Ein Kreuzworträtsel. Ein Comic ohne Bilder. Schwarzweiße Bilder ohne Comic. Das Nachwort auf Seite 94.
An dieser Stelle spüre ich das Kribbeln freudiger Erwartung.
Egal, ob ich das Buch letztendlich hassen oder lieben werde, es wird ein Erlebnis sein. Ich lese die ersten Seiten, die mir nicht viel sagen, und komme zum Inhaltsverzeichnis. Und stutze. Ist das ein Scherz? Unschlüssig hadere ich mit mir. Denn das Inhaltsverzeichnis ist ein Programmablaufplan.
Konventionelle Erzählstruktur: Fehlanzeige. Linear ist was anderes.
Wenn ich das richtig sehe, soll ich auf Seite 223 mit der Geschichte anfangen. Diese springt dann kreuz und quer durchs Buch, es gibt zwei Abzweigungen. Nebenhandlungen? Immer noch weiß ich nicht, ob das ernst gemeint ist, oder ob ich das Buch einfach von der ersten bis zur letzten Seite lesen soll.
Aber ich habe mal Informatik studiert, und ein Programmablaufplan ist ein Programmablaufplan.
Also dann: Seite 223.
[ FORWARD book ]
Einige Tage später:
Das Inhaltsverzeichnis ist ein wildes Gekritzel. Ich habe Jahreszahlen ergänzt, außerdem, welcher Leseabschnitt wie viele Seiten hat.
Damit kann ich jetzt sagen:
Der Ablaufplan ergibt einen chronologischen Weg durch die Geschichte. Die Haupthandlung ist 257 Seiten lang, die beiden Nebenhandlungen, die fürs Verständnis nicht zwingend notwendig sind, 137 und 45 Seiten.
Ich bin unschlüssig, ob der Ablaufplan nur ein Gimmick ist oder ob er der Geschichte eine neue Bedeutungsebene erschließt. Durch das Hin- und Herblättern ergibt sich jedenfalls eine sehr intensive Haptik – ein nettes Element für ein Buch, in dem es viel ums Digitale geht.
[ FORMULA TOO COMPLEX ]
[ ABORT ]
…meine üblichen Rezensionskriterien funktionieren nicht für dieses Buch.
Die Geschichte ist irrsinnig (komplex). Die Charaktere sind zu zahlreich, um auch nur für die Hälfte Mitgefühl zu entwickeln, doch Emotionalität ist hier ohnehin eher Bug als Feature. Von einem Spannungsbogen kann man kaum sprechen, so weit ist die Handlung heruntergebrochen auf einzelne Bausteine, und nicht alle Themen werden bis zum Schluss verfolgt.
Im Rahmen der Geschichte macht das Sinn, soll dieser Roman doch das unvollendete Werk einer verloren gegangenen Literaturmaschine sein, und Matthias Senkel nur dessen Übersetzer.
Ich bin kein Experte für experimentelle Literatur, aber sollte mich in Zukunft jemand bitten, ihm ein experimentelles Buch zu empfehlen (die Wahrscheinlichkeit geht gegen 0), wird meine Wahl auf “Dunkle Zahlen” fallen. Denn auch wenn es bisher so klang, als habe mir das Buch nicht gefallen, bin ich tatsächlich sehr froh, es gelesen zu haben.
Es ist intelligent, ambitioniert, einfallsreich, exzellent recherchiert, immer wieder überraschend, manchmal verspielt.
Die Haupthandlung gibt einen ungewöhnlichen Einblick in die sowjetische Lebenswirklichkeit der Zeit, in die Absurditäten der Ideologie und das Leben der Menschen, die sich dieser Ideologie unterordnen (müssen). Man glaubt an den technologischen Fortschritt und kann doch gleichzeitig die grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen nicht erfüllen.
Viele kleine Episoden, eine irrwitziger als die andere, setzen sich zusammen zu einem chaotischen Gesamtbild, das erstaunlich viel Spaß macht.
Es geht um Planwirtschaft und den Kalten EDV-Krieg, um Vetternwirtschaft und Alkoholismus, und als wäre das nicht genug, auch noch um Spionage, Juri Gagarin, russische Literatur und einen sprechenden Fisch. Ach ja, auch ein Hauch Dystopie darf nicht fehlen.
Vieles ist historisch belegt, und was erfunden ist, fügt sich nahtlos in den zeitgeschichtlichen Rahmen ein. Die Spartakiade, die einen großen Teil der Handlung ausmacht, hat es nie gegeben, aber es hätte sie ohne Zweifel geben können. Auch die Vorstellung, der KGB könne einen Wettstreit junger Programmierer für seine Zwecke nutzen, erscheint plausibel.
Eine der großen Stärken des Romans wird jedoch gelegentlich zu seiner größten Schwäche.
Manchmal nimmt die an sich wunderbare Detaillverliebtheit des Autors meines Erachtens überhand, dann entwickelt die Geschichte empfindliche Längen. Das reicht jetzt, habe ich mir dann gedacht.
Das reicht jetzt.
______________________
¹ Personenverzeichnis voller langer, langer russischer Namen.
REZENSIONEN ZU DIESEM BUCH BEI ANDEREN BLOGS
Spiegel Online
WELT
Der Tagesspiegel
derStandard.de
literaturkritik.de
Süddeutsche Zeitung
Sören Heim
Zeilensprünge
missmesmerized
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Titel | Dunkle Zahlen |
Originaltitel | — |
Autor(in) | GLM-3 |
Übersetzer(in) | Matthias Senkel |
Verlag* | Matthes & Seitz Berlin |
ISBN* | 3957575397 978-3957575395 |
Seitenzahl* | 488 |
Erschienen am* | 9. Februar 2018 |
Genre | Gegenwartsliteratur |
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches |
Das Buch auf der Seite des Verlags
Hallo Mikka,
erstmal möchte ich dir sagen, dass ich deinen Rezensionsaufbau sehr schön finde. Es gefällt mir wirklich gut, wie du sie an das Thema des Buches angepasst hast.
Ich bin grundsätzlich für Bücher zu haben, die nicht im Fließtext von vorn nach hinten zu lesen sind. Ich mag Briefromane (und die ganzen Erweiterungen davon) und finde auch Bilder oder sonstigen Kram in Büchern toll. Von der Aufmachung her, spricht mich das Buch daher durchaus an. Inhaltlich reizt es mich allerdings so gar nicht und auch in deiner Rezension stoße ich auf ein paar Dinge, die mich eher zögern lassen.
Übrigens habe ich gestern eine Rezension bei VersTand auf Youtube zu dem Buch gesehen. Sie hat sich nicht an den Programmablaufplan gehalten 😉
Liebe Grüße
Julia
Hallo Jutta,
ich war auch direkt sehr angetan, als mir erstmal klar geworden war, dass man dem Plan wirklich folgen soll oder zumindest kann! Ja, ich habe auch schon einige Rezensionen gehört/gelesen, wo die Leser “klassisch” von der ersten bis zur letzten Seite gelesen haben, und das stelle ich mir echt schwierig vor. Wenn man dem Plan folgt, verläuft die Geschichte zumindest ohne Zeitsprünge, aber wenn man von vorne bis hinten liest, springt die Geschichte doch total wild hin und her! Ich glaube, dann hätte ich komplett den Faden verloren.
LG,
Mikka
HI Mikka,
ich muss zugeben, dass ich doch gern klare Anweisungen habe.
Ich hab den Nutzen des Ablaufplanes verstanden, aber ich hab den Nutzen nicht verstanden, warum die Kapitel dann anders angeordnet sind. Welchen Nutzen oder Sinn hat es, wenn ich das Buch von vorn bis hinten lese? Auch bei dieser Anordnung muss sich der Autor doch was gedacht haben?
Zumal es ja nicht unbedingt eine klassische Geschichte sondern mehr Fragmente sind, wie ich das verstandne habe.
Dennoch eine interessante Art, ein Buch zu lesen!
LG
Daniela
Hallo Daniela!
Ich glaube, einfach von vorne bis hinten soll man es tatsächlich nicht lesen. Alle Leser, mit denen ich gesprochen habe und die einfach von der ersten bis zur letzten Seite gelesen haben, waren sehr verwirrt, weil die Geschichte dann zeitlich und räumlich wirklich wild hin und her springt.
Wenn man dem Plan folgt, verläuft das Buch chronologisch und hat dann auch eine fortlaufende Geschichte, allerdings ist es immer noch sehr experimentell – es gibt Kapitel, die eine Einteilung in Kästen haben wie bei einem Comic, aber die Kästen sind leer, ohne Bilder (aber mir Text in Untertiteln), und es gibt Kapitel, bei denen Charaktere anscheinend den Verstand verlieren, weil die Geschichte sich auf einmal liest wie ein Drogentrip… Es gibt eine Nebenhandlung, die sich liest wie ein Krimi, der aber nicht aufgeklärt wird.
Es ist alles sehr, sehr schräg und ich habe lange für das Buch gebraucht. Ich glaube, das Inhaltsverzeichnis und die Anordnung der Kapitel ist wahrscheinlich nur deswegen so gemacht, um dem Leser das Gefühl zu geben, irgendwie beteiligt zu sein an dieser Geschichte, in der es viel um die Geschichte der EDV in der Sowjetunion geht.
LG,
Mikka