© Cover ‘Die vielen Leben des Harry August’: Bastei Lübbe, © Foto: A.M. Gottstein
Handlung
“Harry August stirbt … mal wieder. Und er weiß auch genau, wie es weitergehen wird: Er wird erneut im Jahr 1919 geboren werden ― mit all dem Wissen seiner vorherigen Leben. Harry hat längst akzeptiert, dass er in einer Zeitschleife festhängt, auch wenn er nicht weiß, wieso. Doch dann steht plötzlich ein junges Mädchen an seinem Sterbebett und überbringt ihm eine Botschaft: Der Untergang der Welt steht bevor! Und nur Harry kann das auslösende Ereignis, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts stattfindet, verhindern.“
(Klappentext)
Meine Meinung
In meinen Augen ist dieses Buch nichts weniger als ein Meisterwerk, angesiedelt zwischen den Genres Science Fiction und Fantasy – aber weit, weit ab von den jeweiligen genretypischen Klischees. Darüber hinaus ist es wunderbar geschrieben und intelligent konstruiert, die Charaktere sind auf verschiedenste Arten komplex…
Am liebsten würde ich es dabei belassen, um auch ja nicht zu viel zu verraten (liebe/r Leser/in, vermeide Spoiler wie die Pest!), aber dann wäre diese Rezension deprimierend inhaltsleer.
Daher nun doch ein paar Worte zu Harry August und seiner faszinierenden Existenz:
Wie man schon nach wenigen Seiten erfährt, lebt Harry immer wieder das gleiche Leben: nach jedem Tod wird er wieder am gleichen Ort, unter den gleichen Umständen und zum exakt gleichen Zeitpunkt wiedergeboren. Während die meisten Menschen (wie du und ich) linear leben, ist er ein Wesen, das in einer ewigen Schleife zwischen Geburt und Tod existiert, ein Kalachakra – und nicht der Einzige seiner Art.
Die Kalachakra sind keine Vampire, sie nennen keine Magie ihr eigen, und wenn ihre Fähigkeiten bisweilen übermenschlich erscheinen, dann nur, weil sie viele Leben Zeit haben, um diese zu perfektionieren. Auch wenn ihre Geburt mit den entsprechenden Grundbedingungen festgelegt ist, steht es ihnen frei, in jedem Leben neue Entscheidungen zu treffen.
Unglaublich spannend fand ich zum Beispiel die Art und Weise, wie sie Informationen von Generation zu Generation weitergeben (in beide Richtungen) und gleichzeitig ihre Existenz geheimhalten:
Nachrichten in die Zukunft werden mündlich weitergereicht von Alt an Jung, Alt an Jung. Ein Kalachakra wartet bis kurz vor seinem Tod und erzählt dann einem Kalachakra, der zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind ist, seine Botschaft. Dieser wartet dann ebenfalls bis kurz vor seinem Tod und hält es genauso. Nachrichten in die Vergangenheit funktionieren umgekehrt: Jung an Alt, Jung an Alt. (Auf diese Weise erhält Harry die im Klappentext erwähnte Nachricht über drohende Ende der Welt.)
Was daraus entsteht ist eine Gesellschaft, die strenggenommen keine Zeitreise betreibt, da sich jeder nur im zeitlichen Rahmen seines eigenen Lebens bewegen kann, für die Zeit aber dennoch ein sehr dehnbares Konstrukt ist. Ihre Möglichkeiten sind nahezu unbegrenzt, umso wichtiger ist es, dass sie sich bemühen, nicht in den Lauf der Zeit einzugreifen…
Über den Verlauf der Handlung möchte ich nichts Konkretes verraten.
Nur soviel: Claire North reizt die Möglichkeiten, die sich den Kalachakra bieten, voll und ganz aus, und es gelingt ihr dennoch, die üblichen Zeitreise-Paradoxa zu vermeiden. Mehr als einmal war ich voll der Bewunderung dafür, wie unglaublich clever und komplex die Handlung ist! Fast alle der wichtigen Charaktere sind Kalachakra und existieren daher auf vielen Zeitebenen, mit ganz unterschiedlichen Lebensverläufen – und natürlich stellt sich von Generation von Generation immer deutlicher heraus, dass es ihnen nicht vollständig gelingt, den vorgesehenen Verlauf der Zeit nicht zu beeinflussen…
Spannend fand ich die ethischen und philosophischen Fragen, die sich zwangsläufig ergeben.
Wie schon erwähnt, sind die Charaktere meiner Meinung nach großartig geschrieben. Harry selber ist ein Mann, der einem sympathisch sein kann, obwohl im Laufe seiner vielen Leben die Grenzen zwischen Gut und Böse immer mehr verschwimmen. Oder vielleicht sollte ich sagen: Harry ist irgendwann einfach über den Punkt hinaus, wo man ihn noch nach so normalen Maßstäben beurteilen kann.
Seine Absichten sind lauter, sein Ziel ist die Rettung der Welt – aber er ist oft gezwungen, dafür sehr weit zu gehen.
Aber der wahre Geniestreich des Buches ist für mich das Verhältnis zwischen Antagonist und Protagonist.
So beginnt Harry seine Lebensbeichte:
“Dies schreibe ich für dich. Mein Freund. Mein Feind.”
Und tatsächlich sind sie beides: enge Freunde, erbitterte Feinde, oft in ein und demselben Lebenszyklus. Sie tun sich furchtbare Dinge an, und dennoch haben sie beide nachvollziehbare Gründe für das, was sie tun. Ich wollte, dass Harry IHN aufhält, und gleichzeitig graute mir davor, weil es mir unmöglich schien, dass dies nicht für beide eine Tragödie sein würde…
Der Schreibstil ist meines Erachtens hervorragend: intelligent und wortgewandt, genauso abseits der Klischees wie die Handlung.
Fazit
Es würde mich sehr wundern, wenn ich dieses Buch im kommenden Dezember nicht als eines meiner Jahreshighlights betrachten würde. Die Geschichte ist zutiefst originell und lässt sich nur schwer einordnen in ein einziges Genre:
Die Kalachakra sind Menschen, deren Leben nicht linear verlaufen. Jeder Tod bringt sie immer wieder zurück zum Zeitpunkt ihrer Geburt (im Falle von Harry August ein Tag im Jahr 1919), wobei sie einen Großteil ihrer Erinnerungen behalten. Zusammengehalten werden die Kalachakra vom Cronus Club, der durch mündliche Überlieferung zwischen den Generationen Nachrichten durch die Zeit schickt, und so erfährt Harry vom nahenden Ende der Welt, ahnt jedoch nicht, wie nahe er der Ursache dafür ist…
Ein echtes Highlight war für mich die zwiespältige und herzzerreißende Freundschaft zwischen Antagonist und Protagonist.
REZENSIONEN und Artikel ZU DIESEM BUCH
die zukunft
Riccis Literaturweltblog
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Licentia Poeticae
Einige Seiten des Buches Eibon
Jack Reviews
Der Sinn
Der Büchernarr
Wertung | 5 von 5 Sternen |
Titel | Die vielen Leben des Harry August |
Originaltitel | The First Fifteen Lives of Harry August |
Autor(in) | Claire North |
Übersetzer(in) | Eva Bauche-Eppers |
Verlag* | Bastei Lübbe |
Seitenzahl* | 496 |
Erschienen am* | 12. November 2015 |
Genre | Fantasy / Science Fiction |
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches |
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