[ Lesegelaber ] Über die Diversität



Dieser Artikel erschien zunächst im Mai 2017 auf meinem alten Blog auf Blogspot.

Das Thema ‘Diversität’ (oder engl.: ‘Diversity’) wird in den letzten Jahren zunehmend in den Medien diskutiert.

Aber was ist das überhaupt, Diversität?

Um es erstmal ganz nüchtern und theoretisch anzugehen: Diversität ist ein Konzept der Soziologie, bei dem es um die Unterscheidung und Anerkennung der Merkmale einer Gruppe im Allgemeinen und der Merkmale eines Individuums im Besonderen geht.

Insbesondere richtet sich das Augenmerk auf Merkmale, die die Charta der Vielfalt ¹ ‘Diversity-Dimensionen’ nennt:

  • Alter
  • Geschlecht und sexuelle Orientierung (inklusive lgbtiq+ ²)
  • Behinderung
  • ethnische Zugehörigkeit 
  • Religion und Weltanschauung

Es geht um die Anerkennung und Wertschätzung dieser Vielfalt, aber vor allem auch um die Repräsentation insbesondere der Minderheiten, die bisher in Literatur und Medien falsch- oder unterrepräsentiert wurden – es geht um realistische Repräsentation ohne diskiriminierende Stereotypen.

Natürlich möchte ich mich heute besonders auf die Diversität in der Literatur konzentrieren. 

Wie oft habt ihr schon ein Buch gelesen, in dem der Protagonist zum Beispiel über 65 Jahre alt war – oder asexuell, schwarz, mit Down-Syndrom lebend? Im Vergleich eher selten, oder?

Minderheiten werden in meinen Augen vor allem in Büchern vertreten, in denen die Vorurteile und Probleme gezielt in den Mittelpunkt gestellt werden. Mit welchen Schwierigkeiten haben Menschen zu kämpfen, die nicht (mehr) der breiten Norm entsprechen? Welche Stolpersteine werden ihnen von ihren Mitmenschen in den Weg gelegt, wie könnten Freunde, Lehrer, Ärzte oder andere Menschen mit mehr Verständnis reagieren und helfen? 

Und diese Bücher sind wichtig, keine Frage! Besonders als Schullektüre finde ich sie sehr sinnvoll.

Aber wir brauchen auch ganz dringend mehr Bücher, in denen die Diversität nicht das ‘Problemthema’ ist, sondern die zeigen, wie Integration und Anerkennung von Diversität tatsächlich gelebt werden kann. Bücher, in denen POC, homosexuellen, alten, mit einer Behinderung lebenden, andersgläubigen oder einer anderen Minderheit angehörigen Lesern gezeigt wird: ihr gehört dazu, ihr seid genauso wichtig, ihr könnt genauso die Helden eures eigenen Lebens sein! Besonders jungen Lesern, die oft noch unsicher und verängstigt ihre eigene ‘Andersartigkeit’ entdecken, könnten solche Protagonisten wichtige Identifikationsfiguren sein.

Wir brauchen Bücher, die nicht unterscheiden zwischen ‘wir’ und ‘die da mit dem Problem’.

Wir brauchen Bücher, die uns zeigen: wir brauchen nicht die Abgrenzung, wir brauchen keine falsche Betroffenheit, wir brauchen die Integration und das gegenseitige Verständnis.

Leider wird Diversität nicht immer sensibel und gut recherchiert in Büchern behandelt. Oft verfallen die entsprechenden Charaktere doch wieder auf die verletzenden Klischees, und dann ist ein Buch in meinen Augen mehr schädlich als nützlich. Fatalerweise ist das oft etwas, was dem Leser, der sich selber noch nicht mit dem Thema dieser besonderen Art von Diversität beschäftigt hat, gar nicht auffällt, sondern was er dann erstmal als gegeben hinnimmt.

Meine persönliche Erfahrung

Ich selber bin eine 42-jährige, weiße, cisnormative ³ Frau, die in einem Land lebt, wo es auch kein großes Problem darstellt, dass ich Agnostikerin 4 bin. Ich lebe also mit vielen Privilegien, die mir oft gar nicht bewusst sind, und gerade deswegen sind mir auch Bücher wichtig, die mir zeigen, wie Menschen leben, die mit ganz anderen Voraussetzungen konfrontiert sind.

Die einzige Minderheit, der ich selber angehöre, ist die der Menschen mit einer unheilbaren neurologischen Erkrankung, da ich seit etwa 20 Jahren mit Encephalomyelitis disseminata (besser bekannt als Multiple Sklerose) lebe. Und insofern ist meine eigene Erfahrung mit Büchern, in denen ‘meine Minderheit’ eine Rolle spielt, eher begrenzt.

Ich kann die Bücher an einer Hand abzählen, in denen Protagonisten mit MS eine Rolle spielten, und in denen waren sie immer nur die Randfiguren.

Schlimmer noch: meist waren sie den eigentlichen Protagonisten eine Belastung oder wurden dazu benutzt, zu zeigen, wie selbstlos und gut der Protagonist doch ist, weil er sich so wunderbar um eine kranke Person kümmert!

Und diese Bücher sind für mich unheimlich verletzend. Ich kann mich an ein Weihnachtsbuch erinnern 5, das mich mehrmals zum Weinen gebracht hat, da darin eine Frau mit Multiple Sklerose konstant als hilflos, nutzlos, belastend dargestellt wurde. Sätze wie diese machten mich unglaublich wütend und traurig:

“Sie liebte ihn trotz ihrer Krankheit – die ihr das Lieben eigentlich verbot.”

“Dafür brauchte er aber ganz bestimmt eine helfende Hand. Eine gesunde Hand, möglichst nicht die zarten, kranken Hände von Sybille.”

“Sybille sah ihm nachdenklich nach. Es war krankhaft, wie sehr sie ihn liebte. Das lag natürlich auch an ihrer Lage, ihrer Abhängigkeit.” 

“Jochen stellte sich auf einen der Behindertenplätze am Friedhof, denn schließlich transportierte er eine Schwerbehinderte.” 

Sybille der Mensch ging total unter, sie wurde konsequent auf ihre Krankheit reduziert. Es war ein ernüchternder Gedanke, dass die Welt auch mich so sehen könnte! (Ganz zu schweigen davon, dass die Krankheit offensichtlich gar nicht recherchiert, sondern nur auf faktisch falsche Allgemeinplätze reduziert wurde.)

Ich wünsche mir Bücher, in denen Menschen mit MS leben und nicht nur daran leiden. 

Aber wenn mich das schon so verletzt, wo es doch nur so wenige Bücher gibt, die ‘meine Minderheit’ falsch darstellen – wie muss es dann POC, homosexuellen, transsexuellen, andersgläubigen Menschen gehen, die doch sicher sehr viel häufiger mit falschen, übertriebenen, vielleicht sogar gehässigen oder bewusst verzerrten Darstellungen ihrer Lebenswirklichkeit konfrontiert werden?

Deswegen sind Bücher umso wichtiger, die gut recherchiert sind und sensibel mit dem Thema umgehen – die die Menschen zeigen, nicht ‘das Problem’.

Es darf nicht auf ‘wir’ und ‘die Anderen’ hinauslaufen!

Die Debatte, die in den letzten Monaten besonders unter amerikanischen Buchbloggern und Booktubern sehr leidenschaftlich geführt wurde, hat sehr viele Meinungen hervorgebracht, und oft wurde die Frage gestellt:

Warum sollte mich das Thema überhaupt interessieren? Vor allem, wenn ich selber keiner Minderheit angehöre? Eine Auswahl gesammelter Antworten:

(Die Videos sind weiter unten im Anhang verlinkt.)

Between Chapters‘ V1 sagt es in einem ihrer Videos sehr schön: Ich bin selber weiß, hetereosexuell und gesund, aber ich lebe in einer Welt voller Menschen, die nicht weiß, hetereosexuell oder gesund sind. Wenn ich im Buchladen nach einem Buch greife, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich mich darin repräsentiert fühle, und das ist ein gutes Gefühl.

Und ich will, dass meine Freunde und Bekannte auch alle dieses Gefühl haben können.

‘Epic Reads’ V2 zitieren in einem ihrer Videos sechs Autoren von Büchern für junge Erwachsene, in denen sie darüber sprechen, warum Diversität in Büchern wichtig ist. Übersetzen und zusammenfassen lassen die Zitate sich in etwa mit:

  • Wir schulden all unseren Kindern eine gerechte Repräsentation der gesamten Welt. (Ellen Oh)
  • Als schwules Kind hatte ich kein einziges Buch, das mir sagte, dass ich nicht alleine war. Nie mehr, wenn ich es verhindern kann. (Patrick Ness) 
  • Diversität ist nicht nur wichtig, es ist Realität. Menschen sind nicht alle gleich, lasst uns aufhören, das zu ignorieren. Nur eine Art von Mensch in einer Geschichte zu repräsentieren, ist einfach schlechtes Erzählen. (Malinda Lo)  
  • Wir sind 53 Millionen Latinos in den USA, aber nur in 1,5% der Kinderbücher kommen wir vor. Latinokinder, wie meine eigenen Kinder und Schüler, verdienen es, sich in Büchern wiederzufinden. (Cindy L. Rodriguez)
  • Diversität ist unglaublich wichtig, besonders in der Kinderliteratur. Als ich aufwuchs, sah ich selten Menschen wie mich in den Medien, die ich konsumierte. Ich möchte etwas besseres für die Kinder und Teens von heute und morgen. Sie verdienen es, sich in den Seiten der Bücher zu sehen, die sie lesen.  (Melissa Grey) 
  • Wir brauchen diverse Bücher, damit die Menschheit sich weiterentwickeln kann. (Laurie Halse Anderson)

Das Mutter-Tochter-Duo ‘Pixie Carlisle’ V3 beschäftigen sich in ihrem informativen, kindgerechten Video mit der (fikitven) Geschichte eines kleinen schwarzen Mädchens, das in seine Bibliothek geht, um ein ganz bestimmtes Buch zu finden. Sie möchte eine Geschichte lesen, in der ein Mädchen, das so aussieht sie wie, aufregende Abenteuer erlebt, aber das stellt sich als gar nicht so einfach heraus, und schließlich fällt ihr darüber hinaus auf, dass auch andere Kinder in ihrer Klasse (zum Beispiel ein Junge im Rollstuhl) sich nicht oft in Büchern wiederfinden.

Die Botschaft des Videos ist, knapp zusammengefasst: alle Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene möchten sich in Geschichten wiederfinden, und es ist wichtig für ihr Selbstwertgefühl.

Außerdem ist es wahrscheinlicher, dass ein Kind freiwillig nach einem Buch greift (was sich wiederum sehr günstig auf die Schulkarriere und das weitere Leben auswirken kann), wenn es sich im Buch repräsentiert findet. Und sie möchten sich nicht nur in historischen Büchern oder ‘Problembüchern’ wiederfinden, sondern auch in solchen, die einfach Spaß machen! Sie möchten diverse Fantasy, diverse Abenteuer, diverse Krimis und, und, und…

Gegenstimmen

Es gibt leider auch sehr aggressive, hasserfüllte Meinungen, die man leicht bei Youtube finden kann, die ich aber nicht verlinken und damit weiterverbreiten möchte und mit denen ich in keinster Weise übereinstimme.

‘Diversität’ wird darin als abscheuliches, schädliches Wort bezeichnet, das als Waffe (besonders gegen weiße Autoren) missbraucht werde, um die eigene Agenda voranzutreiben. Sie sprechen von ‘umgekehrtem Rassismus’, und zum Teil folgen dann noch längere Ansprachen über das Aussterben der weißen Rasse, und spätestens an dieser Stelle ist es für mich keine ernstzunehmende, sachliche Diskussion mehr,

Autoren aufzufordern, mehr über diverse Charaktere zu schreiben, ist in meinen Augen nur die ganz legitime Bitte, doch auch an die Vielfalt der Leserschaft zu denken und sie zu repräsentieren. 

Andere sprechen davon, ‘Diversität’ sei doch nur eine Masche, um Bücher besser verkaufen zu können, für die sich sonst keiner interessieren würde – aber oft sind die Menschen, die solche Aussagen treffen, eben die, dich ohnehin schon in 99% der Bücher repräsentiert werden. Sagen sie damit nicht eigentlich: Ich will nicht über Menschen lesen, die nicht so sind wie ich? 

Meine eigene Antwort auf die Fragen, warum uns das interessieren sollte: 

Wir leben in einer diversen Welt mit unzähligen Hautfarben, Religionen, Weltanschauungen, Altersgruppen, gesundheitlichen Voraussetzungen, sexuellen Orientierungen und vielem mehr – warum sollten wir unsere literarische Welt künstlich klein halten und ihr Grenzen auferlegen, die schlicht nicht der Realität entsprechen? 

Verständnis entsteht nie aus Abgrenzung. Toleranz kann niemals ohne wirkliche Beschäftigung mit dem, was einem selbst fremd ist, entstehen. Und Literatur sollte etwas sein, das allen Menschen gleich zugänglich ist, und in dem sie sich im gleichen Maße wiederfinden. 


Erwähnte Videos und Artikel zum Thema “Diversität”:

V1  Why Diversity in Books Matters to Me (engl. Video von ‘Between Chapters’)

V2  6 Quotes from YA Authors On Why #WeNeedDiverseBooks (engl. Video von Epic Reads)

V3  Diversity in Literature Matters (engl. Video von Pixie Carlisle)

Weitere, nicht erwähnte Videos zum Thema: 

WE NEED DIVERSE BOOKS | Project For Awesome 2016 (engl. Video von shemightbemonica)

Why We Need Diverse Books (engl. Video von John Green)


Fußnoten:

¹  Charta der Vielfalt – 30. Mai 2017 – Deutscher Diversity-Tag

²  lgbtiq+: lesbian, gay, bisexual, transgender, intersexual, queer

³  cisnormativ: Person, die sich mit dem Geschlecht identifiziert, mit dem sie geboren wurde

4  Agnostiker: Person, die die Existenz eines Gottes für möglich, aber für nicht beweisbar hält

5  “Weihnachten auf dem Lande” von Martina Bick


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