© Cover ‘Maxim Biller Sechs Koffer’: Kiepenheuer & Witsch
© Foto: A.M. Gottstein
Das Buch hat es als Finalist auf die Shortlist der nominierten Bücher geschafft, aber nicht gewonnen.
Handlung
Maxim Biller erzählt die Geschichte einer russisch-jüdischen Familie – oder halt, nein, nicht einer, sondern seiner russisch-jüdischen Familie. Es ist eine komplexe Geschichte von Emigration und Flucht, Verrat und Denunziation, die von Rechts wegen gar nicht auf nur 208 Seiten passen sollte. Fast fühlt es sich an wie ein literarischer Taschenspielertrick, als habe der Autor doch noch 300 Seiten im Ärmel versteckt.
Ein wenig ungläubig schlug ich daher das Buch zu – ungläubig, aber beeindruckt.
Sechs Koffer, sechs Perspektiven: die des Vaters, seiner drei Brüder, der Mutter und einer Tante.
Sechs Bruchstücke einer Geschichte, die sich durch die ganze Welt erstreckt und dabei doch im allerkleinsten Kreise um ein großes Familiengeheimnis dreht: der Großvater wurde 1960 wegen Schwarzmarkthandel und Devisenschieberei hingerichtet, und nur ein Mitglied der Familie kann ihn verraten haben.
Die Geschichte ist fast zu gut, um nicht erfunden zu sein.
Sie ist unterhaltsam, spannend, regelrecht süffig, und hat doch Substanz – im Grunde ist “Sechs Koffer” das perfekte Einstiegsbuch für Leser, die vor Buchpreis-Büchern zurückschrecken, weil sie dröhnende Langeweile fürchten.
Also nein, die Geschichte ist nicht erfunden, sie hat autobiographische Grundlagen. Es ist mutig, die eigene Familie so an den Pranger zu stellen, aber Maxim Biller verwebt die harten Fakten seiner Familiengeschichte mit fiktiven Elementen und heraus kommt ein Roman, der der die reinste Wundertüte ist: Familienroman, Kriminalroman, Abenteuerroman, Spionagegeschichte, zeitgeschichtliches Dokument.
Anspruchsvolle Literatur und dabei beinahe Genreroman – die Mischung ist gelungen.
Der Verrat am Großvater sorgt für kriminologische Spannung, darüber hinaus ist die Familie nicht nur weltweit versprengt – Hamburg, Prag, Moskau, Zürich, Berlin –, sondern auch zerrissen vor gegenseitigem Misstrauen.
Zitat:
Und dort, dachte ich auch noch, ohne es auszusprechen, hast du deinen eigenen Vater verraten. Oder war es Lev? Oder wart ihr es beide?
Die Figuren sind Chimären aus historisch belegten Menschen und Romancharakteren. Maxim Biller beschreibt Szenen aus der Sicht seiner Verwandten, als könne er ihre Gedanken lesen, und auch er selber tritt als wichtiger Charakter auf: er übernimmt die Rolle des jugendlichen Detektivs, der zur treibenden Kraft in der Aufklärung des Geheimnisses wird.
Was ist hier Fiktion, was hat er wirklich erlebt? Die Grenzen verschwimmen.
Er spielt mit der Hoffnung, das große Geheimnis lasse sich nach all der Zeit endlich aufklären – als ließen sich auch die Brüche innerhalb der Familie damit womöglich kitten. Dabei entdeckt er Geheimnisse, die er am liebsten direkt wieder vergessen würde, aber er kann von seiner Suche auch nicht ablassen.
Zitat:
Oh Gott, dachte ich, das will ich jetzt wirklich nicht mehr hören.
Man fragt sich unwillkürlich, was Mutter und Tante zu ihren literarischen Porträts sagen, denn die sind wenig schmeichelhaft.
Mutter Rada wird oft als zornig beschrieben, mehrmals fallen gar Wörter wie “böse” und “kalt”. Zu ihren Kindern scheint sie eine innige Hassliebe zu empfinden.
Tante Natalia ist ebenfalls eine zwiespältige Figur, so lebenshungrig wie tragisch. Sie hat den Todesmarsch von Auschwitz nach Thüringen überlebt, bei dem sie jedoch buchstäblich ihre kleine Schwester verlor, und scheint nun wild entschlossen, alles aus dem Leben herauszuwringen, was sich herauswringen lässt – sei es auch auf Kosten anderer.
Die Frauen misstrauen sich gegenseitig, und auch die Männer, die sie lieben, misstrauen ihnen.
Zitat:
»Woher weißt du, Natalia, dass der StB jahrelang davon wusste?«
Sie sah ihn erschrocken an – sehr erschrocken – und sagte unsicher: »Die wissen doch alles, oder nicht?«
(…)
Wirklich, Natalia? Wissen »die« alles? Oder wissen sie es nur, weil es ihnen einer von uns erzählt hat?
Im “Literarischen Quartett” war man sich uneins darüber, ob Maxim Biller das Geheimnis um den Tod des Großvaters nun wirklich aufklärt oder nicht. Ich schließe mich der Meinung der Autorin Sasha Marianna Salzmann an, die die Lösung auf einer bestimmten Seite gefunden zu haben glaubt – möglicherweise ist aber auch diese vermeintliche Lösung nicht des Rätsels letzter Schluss.
Der Autor empfiehlt die Lektüre des Buches seiner Schwester, die auch schon über die gemeinsame Familie geschrieben hat: “In welcher Sprache träume ich?” Vielleicht füllt dieses die Leerstellen in Maxim Billers Version der Familiengeschichte.
Aber zurück zu “Sechs Koffer”:
Der Schreibstil spielt virtuos mit dem Stilmittel des unzuverlässigen Erzählers.
Immer wieder gibt es subtile Anzeichen dafür, dass man der Wahrnehmung oder Erinnerung einer Person nicht hundertprozentig vertrauen kann – Kleinigkeiten wie eine Couch, die mal dänisch und mal schwedisch ist, mal kuschelig weich und mal kratzig rau. Formulierungen wie “oder so ähnlich” und “aber vielleicht täuschte er sich auch”.
Überhaupt ist der Schreibstil eher schlicht, aber elegant. Er fängt ohne Pathos eine verzweifelte Grundstimmung ein und scheut auch nicht davor zurück, Schmerz und Humor Hand in Hand gehen zu lassen.
Amüsant und interessant ist ein wiederkehrendes Motiv des Buches:
Maxim Billers ‘Alter Ego’ soll einen Aufsatz über Brecht schreiben. Der Junge reagiert mit Widerwillen, kapiert eigentlich nicht, was Brecht ihm sagen will – erlebt dann aber ständig etwas, was ihm Sätze des Autors in jähem Verstehen in Erinnerung ruft
Fazit
“Sechs Koffer” ist ein autobiographischer Roman, in dem es um das größte Geheimnis der russisch-jüdischen Familie des Autors geht: wer hat den Großvater verraten, der 1960 in der Sowjetunion hingerichtet wurde? Es kann nur ein Familienmitglied gewesen sein, und so betrachtet man sich mit gegenseitigem Misstrauen. Viele Jahre später zieht der Enkel – der Autor! –, los um das Geheimnis zu lösen.
Das liest sich einerseits hochliterarisch, andererseits spannend wie ein Krimi. In meinen Augen ist das Buch ein sehr starker Anwärter auf den Deutschen Buchpreis – am 8. Oktober 2018 wird sich zeigen, ob auch die Jury das so sieht.
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Titel | Sechs Koffer |
Originaltitel | — |
Autor(in) | Maxim Biller |
Übersetzer(in) | — |
Verlag* | Kiepenheuer & Witsch |
ISBN* | 3462050869 978-3462050868 |
Seitenzahl* | 208 |
Erschienen am* | 8. August 2018 |
Genre | Gegenwartsliteratur |
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches |
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