#Rezension Peter Stamm: Weit über das Land




© Cover / Titelbild ‘Weit über das Land’ von Peter Stamm: S. Fischer Verlag
© Fotos: A.M. Gottstein

Handlung

Thomas ist mit seiner Familie gerade aus einem harmonischen Urlaub zurückgekehrt. Alles ist gut: mit seiner Frau Astrid sitzt er im Garten und trinkt ein Glas Wein. Aber als sie ins Haus geht, um nach den Kindern zu sehen, erscheint ihm der Garten mit einem Mal als Verlies.

Thomas steht auf und geht.

Ungeplant, Schritt für Schritt, immer geradeaus. Und er wird für eine lange Zeit nicht anhalten.

Peter Stamm: Weit über das Land

Meine Meinung

Mit Thomas präsentiert uns Peter Stamm einen Protagonisten, der schwer zu fassen ist.

Auf seiner Flucht lässt Thomas seinen Gedanken freien Lauf, dennoch bleiben seine Motive größtenteils unerklärt und unreflektiert. Er kümmert sich nur um die grundlegendsten Bedürfnisse: Essen, Kleidung, Sicherheit. Das schafft Raum für ein Leben im Augenblick – den er annimmt, jedoch selten hinterfragt. Peter Stamm lässt diese Lücke ganz bewusst stehen.

Thomas beobachtet. Sehr genau. Aber er interagiert kaum mit der Welt um sich herum.

In diesem ersten Moment im Garten erahnt man, wie eingesperrt er sich fühlt in seinem durchschnittlichen Leben. Im Laufe des Buches verdichtet sich der Eindruck, dass er dieses als klaustrophisch eng empfand und gleichzeitig als vollkommen sinnentleert.

Astrid versucht zunächst, das Verschwinden ihres Mannes nach außen zu leugnen, dann auch innerhalb der Familie durch Erklärungen bekömmlich zu machen. Jeder habe doch mal den Wunsch, vor allem zu fliehen. Jeder brauche gelegentlich eine Auszeit. Sie sucht nach Motiven, die seine Flucht erklären und eine Rückkehr zugleich nicht undenkbar machen.

Die Lücke, die Thomas hinterlässt, ist gleichzeitig erstaunlich klein und allumfassend.

So stellt Astrid fest, dass es im Familienalbum so gut wie keine Bilder von Thomas gibt. Immer nur Astrid und die Kinder, die Kinder und Astrid. Dennoch kann Astrid sich nicht lösen von Thomas. Umgekehrt fühlt auch er sich trotz (oder gerade wegen) der räumlichen Distanz, die sich stetig vergrößert, verbunden mit seiner Familie.

Der Autor beginnt das Buch mit einem Zitat von Markus Werner: ‘Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns’.

Die Geschichte wird abwechselnd aus Astrids und Thomas’ Sicht erzählt, dabei geht die eine Perspektive oft fließend in die andere über. Manchmal ist für den Leser kaum ersichtlich, was wirklich passiert und was nur Fantasien und Tagträumen entspringt.

Mehr als einmal fragte ich mich, ob es überhaupt zwei Perspektiven gibt – oder nur Thomas’ Sicht und seine Vorstellungen, wie das Leben seiner Familie ohne ihn weitergeht.

Die Geschichte folgt keinem deutlich erkennbaren Spannungsbogen. Über lange Strecken passiert wenig, was die Handlung voranbringt. Die Handlung zieht sich, Thomas läuft weit über das Land, und Astrid scheint gefangen in einem Leben, das mit seinem Verschwinden zum Stillstand kam. Für mich lag die Sogwirkung des Romans im Gedankenspiel:

Was ist und was hätte sein können, überlappt sich, bis es jäh zum Bruch kommt: auf einmal erscheint eine der Perspektiven logisch nicht mehr erklärbar. Dem Leser obliegt die Entscheidung, welche Realität er annehmen will – wenn überhaupt eine davon.

Es ist definitiv ein Buch, aus das man sich einlassen muss. Selbst dann ist es ein Buch, das seine Schwächen hat.

Abgesehen von der gelegentlichen ermüdenden Passage, in der Thomas’ Leben scheinbar auf Endlosschleife läuft, hat mich vor allem das Ende enttäuscht. Auch wenn ich die Möglichkeit in Betracht ziehe, dass es sich dabei nur um eine Fantasievorstellung handelt, wird hier in meinen Augen eine allzu saubere Lösung erzwungen.

In der Beschreibung der Landschaft, durch die Thomas wandert, liegt in meinen Augen indes eine große Stärke des Romans.  So schön sie ist, so bedrohlich und lebensfeindlich wirkt sie auch – muss sie wirken, damit der Protagonist seine persönliche Heldenreise antreten kann.

Man spürt die Urgewalt der Natur, ohne dass die Sprache laut wird. Auch sonst bleibt sie einfach und klar, sogar nüchtern.

Peter Stamm erzählt ohne Dramatik vom leisen Scheitern eines Lebens und der Flucht vor der entstandenen Leere.

Wegbegleiter

REZENSIONEN ZU DIESEM BUCH BEI ANDEREN BLOGS

Deutschlandfunk Kultur
Die Zeit
Welt
Der Tagesspiegel
Frankfurter Rundschau
literaturleuchtet
Neue Zürcher Zeitung
Fixpoetry
Viceversa Littérature

Dieses Buch könnte Lesern gefallen, die die folgenden Bücher mögen

“Drei Tage und ein Leben” von Pierre Lemaitre
“Leinsee” von Anne Reinecke
“Sag den Wölfen, ich bin zu Hause” von Carol Rifka Brunt

 

 
TitelWeit über das Land
Originaltitel
Autor(in)Peter Stamm
Übersetzer(in)
Verlag*S. Fischer
ISBN*3100022270
9783100022271
Seitenzahl*224
Erschienen am*25. Februar 2016
GenreGegenwartsliteratur
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
Die folgenden Links kennzeichne ich gemäß § 2 Nr. 5 TMG als Werbung :

Das Buch auf der Seite des Verlags
Das Buch bei buchhandel.de

signature (Leider musste ich die Kommentarfunktion auf WordPress
wegen massivem Spam und Botattacken ausstellen!)