#Rezension Yael Inokai: Ein simpler Eingriff

Yael Inokai: Ein simpler Eingriff

© Cover ›Ein simpler Eingriff‹:
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Karin Lipski

“Ein simpler Eingriff” ist das Patenbuch der Buchpreisbloggerin Karin Lipski – little words – bitte schaut auch bei ihr vorbei!
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Simpel, wirkungsvoll, fatal

Meret ist Krankenschwester. In ihrer Klinik wird ein Eingriff angewandt, der psychische Erkrankungen schnell und radikal auslöschen soll. Meist geht es um Frauen, die eingeliefert wurden, weil sie ihre Wut allzu offen zeigten. Aber Wut auf wen, und ist diese vielleicht gerechtfertigt? Immer wieder werden hier patriarchalische Hierarchien spürbar – mit Tradition verbrämter, mit Effizienz rationalisierter Machtmissbrauch. Die Wut der Männer ist Privileg, die Wut der Frauen ist Wahnsinn, der ihnen aus den Gehirnen geätzt werden muss.

Ort und Zeit bleiben unbestimmt, doch eins ist offensichtlich: In diesem Setting ist Medizin mit einem großen Machtgefälle verbunden. Wer bestimmt, was Normalität ist und was Wahn?

Blinde Assistentin des Unrechts

Meret glaubt an die Ausreden, hinterfragt nicht die Lügen derer, die Frauen Macht und Autonomie rauben. Als Kinder wurden ihre Schwester und sie vom Vater regelmäßig schwer misshandelt. Doch Meret ist so verwurzelt in einer Lebenswirklichkeit, in der Machthabende auch Rechthabende sind, dass sie die Schuld einzig und allein bei der Schwester sucht. Auch den Ärzten und dem ‘simplen Eingriff’ vertraut sie später blind und sieht nicht, wie vor allem unbequeme Frauen damit ruhiggestellt werden.

»Keine Schmerzen. Die kämen später. Darüber sprachen wir in dem Moment allerdings nicht.«

Sie ist ein geschätztes Rädchen im Getriebe der Klinik. Im Grunde ist sie die Ruhigstellerin. Ihre Aufgabe ist es, sich mit Patient:innen anzufreunden, ihre Ängste und Zweifel zu beschwichtigen und sie während dem Eingriff, der bei vollem Bewusstsein am offenen Gehirn vorgenommen wird, abzulenken und zu beruhigen. Sie ist stolz darauf, dass einer der Oberärzte sie für diese Aufgabe auserwählt hat.

Befreiung als Verletzung, als Verlust

Als sie sich in Sarah verliebt, die klareren Blicks auf die die Voreingenommenheit und Skrupellosigkeit dieser psychiatrischen Maschinerie schaut, wird Meret bis ins Mark erschüttert und will es doch nicht zulassen. Was bedeutet es für sie, wenn der Eingriff gar nicht rettet, sondern den Patient:innen bestenfalls¹ einen Teil ihrer Persönlichkeit, ihrer Intelligenz, ihres Antriebs raubt? Nicht zu schweigen von ihrer Menschenwürde …

¹ Ich sage ‘bestenfalls’, denn es kommt durchaus vor, dass der Eingriff misslingt … Todesfälle, die im Namen des Fortschritts und der Wissenschaft hingenommen werden.

Je genauer Meret hinschaut, je mehr sie hinterfragt, desto schneller rinnt ihr der Lebenssinn durch die Finger wie Sand. Was bleibt von ihr, wenn sie nur noch Meret ist, nicht mehr Teil von etwas Großem? Dagegen stäubt sie sich, bis sie im Angesicht der als Heil verkauften Tragödien nicht mehr leugnen kann, was geschieht. Ihre Befreiung aus diesem unmenschlichen System geschieht nur unter seelischen Schmerzen und mit Widerstand.

Wo fängt es an, wo hört es auf?

Gegen Ende deutet ein Arzt an, er habe Merets lesbische Neigungen erkannt – und auch das könne mit einem ähnlichen Eingriff ‘korrigiert’ werden, wenn sie das wünsche. Spätestens hier lässt sich nicht mehr leugnen, dass es bei dem Eingriff oft nicht um Heilung geht, sondern um Anpassung an die gesellschaftlichen Normen. Und ja, auch um Geld, denn es sind gerade die wohlhabenden Familien, die ihre ‘nicht mehr tragbaren’ Töchter korrigieren lassen. Patient:innen werden geradezu entmenschlicht, gefügig gemacht, zum Schweigen gebracht.

Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig

Die Charaktere werden so prägnant beschrieben, so klar und glaubhaft, dass man sie schnell zu kennen glaubt. Meret, ihre Geliebte, der Arzt, die aktuelle Patientin, sie alle erwachen in geradezu schwerelosen und doch gewichtigen Worten zum Leben. Der Sprachrhythmus zieht dich rein in Merits Lebensrealität, wo du dann in gespannter Erwartung verharrst.

Die Liebesgeschichte zwischen Meret und Sarah ist trotz des verstörenden Handlungsrahmen eine sehr berührende, mit großer emotionaler Tiefe. Hier entfaltet sich eine zarte Poesie, die die Tragik des Geschehens eher herausstreicht als schmälert.

Yael Inokai führt Leser:innen mit klaren, leisen Worten durch die Geschichte. Worte, die niemals belehren. Worte, die weder beschönigen noch die Tragödien für den Schockfaktor ausschlachten. Das haben sie gar nicht nötig, denn die Wucht und Wirkung der Geschichte entfaltet sich gerade in den Zwischentönen, im Unausgesprochenen. “Ein simpler Eingriff” ist ein wunderbarer Roman, der dich nachdenklich zurücklässt – und mit dem emotionalen Echo, der inneren Resonanz der zum Schweigen gebrachten Wut.

Fazit

Bird LB

“Ein simpler Eingriff” ist definitiv einer meiner Favoriten für die diesjährige Verleihung des Deutschen Buchpreises.

Die Subtilität, mit der Yael Inokai spricht, mit der sie Leser:innen an die Hand nimmt, tut der Aussagekraft der Geschichte keinen Abbruch. In ihren Worten schwingt das Ungesagte mit; da hörst du das leise Summen der gesellschaftlichen Normen und Anforderungen, spürst das Vibrieren der Ungerechtigkeiten, der soziokulturellen Einstellungsmuster. Der ‘simple Eingriff’ bringt Frauen zum Schweigen – literarische Schwestern all der zum Schweigen gebrachten Frauen in unserer Realität. Meines Empfindens gibt die Autorin ihnen stellvertretend eine Stimme.

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TitelEin simpler Eingriff
Originaltitel
Autor(in)Yael Inokai
Übersetzer(in)
Verlag*Hanser
ISBN / ASIN978-3-446-27231-6 (Hardcover)
978-3-446-27231-6 (eBook)
Seitenzahl*192
Erschienen im*Februar 2022
Genre*Gegenwartsliteratur
bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches
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