#Rezension Linn Ullmann: Die Lügnerin

Linn Ullmann: Die Lügnerin


| Handlung |

Die Bloms sind eine Familie, die eines Woody- Allen-Films würdig wäre, jeder einzelne liebenswert und verrückt, leicht schräg und auf besondere Art unglücklich. Vor allem die Frauen aus drei Generationen geben den Ton an: June und Selma, die alten Kämpferinnen, dann Annie, die Unwiderstehliche, und schließlich ihre Töchter, hier Julie, stets am Rand der Verzweiflung, da Karin, die gern Geschichten erzählt, Männer verführt und lügt. Julies Hochzeit bildet den Auftakt zu einem Familienporträt, das mit Witz und Scharfsinn Lebenslügen demontiert und erzählt, was so alles zwischen Menschen passieren kann, die sich nahestehen.
(Klappentext)

Meine Meinung

“Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; unglücklich ist jede Familie auf ihre eigene Art.”
(Leo Tolstoi)

An dieses Zitat fühlte ich mich beim Lesen öfters erinnert, denn die Familie Blom ist ohne jeden Zweifel sowohl unglücklich als auch eine bunte Ansammlung starker und widersprüchlicher Persönlichkeiten. Ob das jetzt die stets zornige, genüsslich verbiesterte Tante Selma ist, die unwiderstehlich schöne Mutter/Schauspielerin Anni, die traurige Schwester Julie – oder eben Karin: die Ich-Erzählerin, die Lügnerin.

Diese hat als Kind schon den Unterschied gelernt zwischen Lügen, die sich lohnen, und solchen, die ihr nur Ärger einbringen, und seitdem lügt sie. Aus Langeweile, aus Geltungssucht, um etwas zu bekommen oder einfach aus Prinzip, jedenfalls unverfroren und ohne mit der Wimper zu zucken. Als Leser schwant einem schnell, dass man auch dem nicht bedingungslos Glauben schenken kann, was sie über ihre Familie erzählt.

Der Übergang zwischen Lüge und Fantasie ist dabei oft fließend. So beginnt Karin auf einer Hochzeit ein Gespräch mit dem Priester, das zunehmend unwahrscheinlicher klingt, bis man sich verunsichert fragt, ob Karin selber glaubt, was sie da erzählt. Vielleicht überreizt sie die Glaubwürdigkeit auch ganz bewusst, mit diebischer Freude, wie ein kleines Kind, dass die Grenzen austestet?

Im Verlaufe des Buches werden ihre Geschichten immer absurder – bis hin zu einer Episode mit einer Makrele, die an Kafkas “Die Verwandlung” erinnert, aber meines Erachtens nicht an dessen rohe Wucht heranreicht.

Karin wirkte auf mich wie eine unreife Person, die ein tiefes und unerklärliches Unglück mit sich trägt. In krassem Kontrast zu ihrer beinahe kindlichen Unreife steht, wie obsessiv und plakativ sie ihre Sexualität auslebt: sie sucht sich wahllos Männer, die sie aggressiv verführt, zum Teil in vollkommen unangemessenen Situationen. Oder sind auch das nur Fantasien?

Beim Lesen hatte ich das Gefühl, dass Karin mehr und mehr den Halt und jede familiäre Identität verliert, während ihre Fantasien die durchaus interessante Familiengeschichte immer wieder bis ins Unrealistische verzerren.

Je bunter ihre Lügen werden, desto blasser erschienen mir indes die anderen Charaktere: degradiert zu bloßen Statisten.

Die Geschichte ist zweifellos originell, aber sie springt hin und her, mäandert über lange Strecken ohne roten Faden vor sich hin. Zwar ist das wahrscheinlich unvermeidlich bei einer Hauptfigur wie Karin, und normalerweise liebe ich unzuverlässige Erzählstimmen in der Literatur –  hier konnte es mich jedoch zu meinem größten Bedauern nicht vollends überzeugen.

Die Spannung ging mir dadurch verloren, viele Passagen fand ich ermüdend langatmig und unbeholfen. Frustriert versuchte ich, dem Tiefgang nachzuspüren, der immer wieder anklingt: zwar kann man erahnen, was sich hinter diesem oder jenem Bild verbirgt, aber es bleibt bei der Ahnung.

Schall und Rauch? Oder doch bewusstes Spiel mit dem Leser?

“Pseudo-intellektuell” nennt das ein Leser auf Amazon. “Langweilig”, “schwache Leistung” oder “vertane (Lese-)zeit” urteilen andere. Zum Zeitpunkt, da ich diese Rezension schreibe, haben stolze 37% (!!) der Bewertungen nur 1 Stern vergeben.

Ich zögere, das Buch so harsch zu beurteilen. Zwar sehe ich durchaus verschenktes Potential, aber nach dem Lesen hat mich die Frage nach der Bedeutung des Ganzen noch tagelang beschäftigt: was steckt wirklich hinter den frappantesten von Karins Lügen? Was bedeutet die Makrele? Was, dass die Mutter im wahrsten Sinn des Wortes das Gesicht verliert?

Die Geschichte hat einen Nachhall, den nur eine Geschichte mit Bedeutung haben kann. Dennoch: empfehlen würde ich das Buch eher nicht.

Ein paar abschließende Worte zum Schreibstil: er ist oft sehr schlicht und einfach, mit zahlreichen Wiederholungen, die jedoch sehr bewusst eingesetzt werden, mit einem beinahe lyrischen Klang. Viele der Metaphern und Bildern sind unglaublich stark, auch wenn sich ihr Sinn nicht immer erschließt.Ich habe ein paar Seiten im norwegischen Original gelesen, und dort ergibt sich daraus ein sehr starker Sprachrhythmus, der sich nicht gänzlich ins Deutsche übertragen lässt (obwohl die Übersetzung sicher sehr gut ist).

“Anni liebte ihre Kinder. Ich liebe meine Kinder, sagte sie immer. So war sie erzogen: eine Mutter liebt ihre Kinder. Sie sagte es immer laut, oft ganz unmotiviert, zu allen, die es hören mochten: ich liebe meine Kinder. Großmutter liebte ihre Kinder auch, sie liebte ihre Tochter Anni, und sie liebte ihre Tochter Else, die in Wisconsin lebt. Ich bin sicher, dass Großmutters Mutter Großmutter liebte, so wie Großmutter Mutter liebte und wie unsere Mutter uns liebt. Wir waren eine liebevolle Familie.”

Fazit

Nicht ganz überzeugt

Karins Familie ist liebevoll, ihre Mutter unwiderstehlich, ein Mann verwandelt sich in eine Makrele, und möglicherweise ist mehr als eines davon eine Lüge.

“Die Lügnerin” ist eine verschachtelte Familiengeschichte voller (zunächst) überlebensgroßer Charaktere, aber für mich verlor sich der Reiz der Geschichte zunehmend. Durch Karins Lügen bleibt sie selber ungreifbar, und je mehr sie sich in ihren Lügen in den Mittelpunkt stellt, desto schwächer wirkte auf mich der Rest der Charaktere.

Geschichte und Schreibstil haben großartige Momente, trotzdem konnten sie in meinen Augen ihr Potential nicht vollständig entfalten.

REZENSIONEN und Artikel ZU DIESEM BUCH

Deutschlandfunk
Spiegel

Wertung2,5 von 5 Sternen
TitelDie Lügnerin
OriginaltitelFør du sovner
Autor(in)Linn Ullmann
Übersetzer(in)Gabriele Haefs
Verlag*btb
Seitenzahl*384
Erschienen am*13. Mai 2013
(dtsch. Erstausgabe 1999)
GenreGegenwartsliteratur
* bezieht sich auf die abgebildete Ausgabe des Buches

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