[ Lesegelaber ] Über das Belesensein

Belesensein


© Beitragsbild: zusammengesetzt aus Bildern von Pixabay
Dieser Beitrag erschien zum ersten Mal im September 2016 auf meinem alten Buchblog auf Blogspot.


Wann ist man eigentlich belesen? Wer entscheidet das – und muss man das überhaupt sein?

Dass ich über dieses Thema schon eine Weile nachdenke, daran ist Steve Donoghue schuld. Steve ist ein amerikanischer Vielleser, Buchblogger, Booktuber, Literaturkritiker, Schriftsteller und Redakteur, der sich hauptsächlich mit anspruchsvoller Literatur beschäftigt: Klassiker, preisgekrönte (oder für Preise nominierte) Bücher und Ähnliches.

In seinen Videos plaudert er mit feinem Humor und selbstironischem Augenzwinkern über Literatur
und alles, was damit zu tun hat. Als scheinbar unbekümmerter Grenzgänger zwischen Feuilleton und Buchblog/Booktube postet er Hauls und nimmt an TAGs teil, äußert sich aber auch kritisch gegenüber dem Phänomen Booktube. Wie ein meist (!!) nachsichtiger Großvater schüttelt er verständnislos den Kopf über diejenigen unter den jungen Booktubern, die ausschließlich über die angesagtesten Bücher und Autoren reden – und das scheinbar völlig unreflektiert, indem sie einen Neuzugang nach dem anderen vor die Kamera halten, nur um dann nie wieder ein Wort darüber verlieren.

Schön und gut – aber was hat das jetzt mit Belesenheit zu tun?!

Am 23. Mai 2016 lud Steve ein Video hoch, in dem er seinem Unverständnis mit drastischen, sogar polemischen Worten  Ausdruck verlieh (in meinen Augen eher ein unglücklicher Ausrutscher als echte Böswilligkeit) und diesen Booktubern den Status als “echte” LeserInnen absprach.

“I mean, do they strike you as readers? When you watch their well-lit, well-filmed videos, with them sitting there wearing blush in front of studio lights, can you honestly picture them hunkered down with a book, happily reading, oblivious to everything else? I certainly can’t picture that.”

(“Ich meine, kommen die euch vor wie Leser? Wenn ihr euch ihre professionell ausgeleuchteten und gefilmten Videos anschaut, in denen sie geschminkt vor Studiolampen stehen, könnt ihr sie ehrlich vor euch sehen, wie sie, um ein Buch zusammengerollt, glücklich lesen, ohne etwas anderes wahrzunehmen? Ich kann mir das mit Sicherheit nicht vorstellen.”)

Jaja… Was ist nun mit Belesenheit?

Das Video löste einen wahrhaft epischen Shitstorm aus, komplett mit Hashtags wie #fakereadergirls und zunehmend persönlichen Hasstiraden gegenüber Steve. Aber so nach und nach flaute der Shitstorm ab, und wie ein Phönix erhob sich aus der Asche eine interessante Debatte zum Thema: What does it mean to be well-read? (Was bedeutet es, belesen zu sein?)

!! Bevor ich jetzt endlich mit dem eigentlichen Artikel anfange: Was ich hier schreibe, ist meine subjektive Meinung, ich erhebe keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, schaue in keinster Weise auf Menschen herab, die eine andere Meinung vertreten, und halte mich selber auch nicht für belesener als andere. !!

Um es mal auf die in meinen Augen wichtigsten Punkte zu reduzieren, stellen sich mir vor allem die folgenden Fragen:

Quantität oder Qualität?

Bin ich automatisch belesen, wenn ich 150 Bücher im Jahr lese? Sozusagen als Fleißkärtchen für die 61.358 gelesenen Seiten? Kann ich mir das vorstellen wie in einem Videospiel: jedes Buch gibt Punkte, und alle 50 Bücher steige ich einen Level auf, bis ich schließlich die Trophäe “Belesenheit” erspielt habe? 

So hart das klingt, ich würde diese Frage beantworten mit: Nein, nicht unbedingt.

Wenn es 150 dieser Liebesromane sind, auf deren Covern halbnackte, braungebrannte Männer dahinschmachtende Frauen in rüschigen Kleidern im Arm halten, dann fehlt mir da einfach ein gewisser inhaltlicher Nährwert.  Ganz ehrlich – macht es wirklich einen Unterschied, ob ich jetzt 5, 50 oder 150 dieser Bücher gelesen habe?

Aha. Also, wenn ich dann jedes Jahr das Buch lese, das den Literatur-Nobelpreis gewonnen hat, dann bin ich belesen, weil es anspruchsvoll ist? 

Auch nicht. Ein Buch im Jahr ist dann doch ein bisschen wenig, denke ich.

Na gut. Wie sieht es denn aus, wenn ich 100 Bücher lese, die alle super Bewertungen haben? Oder 100 Klassiker! Qualität und Quantität! Jetzt muss ich einfach belesen sein! 

Nö. Es tut mir leid, aber meine Antwort ändert sich dadurch nicht. Es kommt immer noch darauf an.

Wie jetzt? Das ist doch nicht fair? 

Doch. Wenn es 100 Bücher aus dem gleichen Genre sind, mit dem gleichen Schwierigkeitsgrad, dem gleichen Beuteschema, dem gleichen Wasauchimmer – wenn diese 150 Bücher sich nicht auf irgendeine Art grundlegend voneinander unterscheiden, dann machen sie mich zwar zur Vielleserin, aber nicht belesen.

Das erste Kriterium ist in meinen Augen also eine Mischung aus einer gewissen Quantität, verbunden mit Qualität und Abwechslungsreichtum.

Aber was ist Qualität? Wer entscheidet das?

Populär oder elitär?

Ist die Qualität eines Buches ausreichend, um zur Belesenheit beizutragen, wenn es sich gut verkauft, also populär ist? Oder muss es Literaturpreise gewonnen haben, die seine Qualität bezeugen? Das ist eine unglaublich schwammige Frage, die sich meines Erachtens kaum beantworten lässt, denn auch hier ist weder das eine noch das andere klar abzugrenzen.

Na toll.

Ja, es gibt meiner Meinung nach durchaus Kriterien, anhand derer sich die handwerkliche Qualität eines Buches bestimmen lässt (Schreibstil, Spannungsbogen, Komplexität der Charaktere etc). Aber darüber hinaus gibt es schlicht und ergreifend keinen Gott der Literatur, dessen Wort Gesetz ist. Egal, wie hochdotiert der Preis oder wie angesehen der Kritiker – Belesenheit ist im Grunde etwas Subjektives, und insofern kann es niemals eine außenstehende Partei geben, die für mich entscheidet, was mich belesen macht. Auszeichnungen und gute Kritiken können aber durchaus Wegweiser sein auf dieser Reise.

Denn ich würde nicht behaupten, dass mich zum Beispiel “Fifty Shades of Grey” belesener macht, nur weil es sich gut verkauft. Andererseits würde ich aber durchaus sagen, dass es zu meiner Belesenheit beitragen kann, weil es ein Genre ist, das ich sonst nicht lese, oder mich zum Nachdenken anregt über Themen, über die ich noch nie nachgedacht habe.

“Fifty Shades of Grey”? Echt jetzt?!

Ja, in meinen Augen kann mich auch ein Buch, das mir nicht gefallen hat und das ich vielleicht noch nicht einmal qualitativ hochwertig fand, weiterbringen auf meinem Weg zur Belesenheit!

Da wären wir wieder beim Abwechslungsreichtum. Schaut über den Tellerrand. Wagt euch raus aus eurer Komfortzone. Wechselt das Genre. Lest breitgefächert!

Unterhaltsam oder fordernd?

Ich habe es ja gerade schon angesprochen: auch ein Buch, das ich nicht mochte, kann eine Erfahrung sein und mich weiterbringen. Aber natürlich kann jetzt nicht das Ziel sein, nur noch Bücher zu lesen, die mir keinen Spaß machen!

Na, Gott sei Dank… 

Lesen sollte eine Freude sein, ein Genuss, vielleicht sogar eine Auszeit vom Leben. Es ist meiner Meinung nach völlig in Ordnung, unterhaltsame Bücher zu lesen – obwohl man manchmal den Eindruck gewinnen könnte, in der deutschen Literatur gilt ein Buch erst dann als “echte” Literatur (für “echte” Leser), wenn es langweilig, deprimierend oder anstrengend ist, am besten alles drei.Jeder soll das Lesen, was ihm Spaß macht, ganz egal, ob Liebesroman, Fantasy oder Horror. Genauso wie uns ultimativ keiner sagen kann, was uns belesen macht, kann uns keiner vorschreiben, dass wir belesen sein müssen.

Aber. Ganz großes Aber.

Wenn man danach strebt, belesen zu sein, dann führt meines Erachtens kein Weg daran vorbei, auch mal Bücher zu lesen, die es einem nicht so einfach machen. Bei denen einem der Kopf raucht, die einen traurig, wütend oder fassungslos machen, oder zu denen man erst keinen Zugang findet. Die einen fordern, für die man arbeiten muss! Ich weiß nicht mehr, welcher Booktuber es war, der das mit körperlicher Fitness verglich: das ginge ja auch nicht ohne Schweiß und Muskelkater ab, denn von nichts kommt schließlich nichts.

Du hast doch eben noch von Freude, Genuss und Auszeit gesprochen! 

Ja, das muss sich auch nicht widersprechen. Es kann eine Freude und ein Genuss sein, sich selbst zu fordern! Das kennen viele ja auch vom Sport, es kann ein wahnsinnig gutes Gefühl sein, wenn man sich so richtig ausgepowert hat.

Aber muss das wirklich sein? Muss Literatur fordern? Warum? Wer sagt das? Ist Belesenheit nicht ohnehin ein Standard, dem man niemals erreichen kann, und somit bedeutungslos?

Wie schon gesagt: alles eine Frage der persönlichen Empfindung und der persönlichen Entscheidung. Es gibt keinen Preis für Belesenheit, und vielleicht verstehst du unter Belesenheit ohnehin etwas ganz anderes als ich. Das hier ist nur meine ganz subjektive Sicht der Dinge. Die Motivation muss aus dir heraus kommen.

Niemand hat das Recht, die Nase darüber zu rümpfen, was du liest, warum du liest, wieviel du liest. Um die Band “Goethes Erben” zu ziteren:

Ich allein will der Gott meiner eigenen Wahrheit sein. 

 

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